Betriebliche Mitbestimmung: Arbeiter als Kapitalisten
Betriebsräte agieren immer mehr wie Manager. Die Arbeitskämpfe haben sich deshalb in die Firmen verlagert, denn dort können Betriebsräte mitmischen.
Wenn die Schiffsbetriebstechniker und andere Servicekräfte von SAM Electronis auf ihre Dienstpläne gucken, wünschen sie sich manchmal, dass der Tag mehr als 24 Stunden hätte. Eigentlich gilt bei dem Schiffsausrüster, der seinen Hauptsitz in Hamburg-Othmarschen hat, die 35-Stundenwoche. "Aber in einigen Abteilungen kann man derzeit auch locker 45 bis 55 Stunden arbeiten", sagt der Betriebsratsvorsitzende Erik Merks.
Denn in der Schiffzulieferindustrie wird die Krise zeitversetzt ankommen. Der Boom der letzten beiden Jahre hat für volle Auftragsbücher gesorgt. Bis Ende des Jahres, schätzt Merks, hat der Großteil der rund 750 Mitarbeiter noch mehr als genug damit zu tun, die Bestellungen abzuarbeiten. Dann aber wird die Arbeit knapp werden. Seit fast zwölf Monaten ist in Europa kein einziges Schiff bestellt worden.
Krisen - ob konjunkturelle, strukturelle oder hausgemachte - sind für den Betriebsrat nichts Neues. In den letzten zwei Jahrzehnten hat SAM Electronics der AEG gehört, Daimler-Benz, dem Bremer Vulkan, Rheinmetall, dem Finanzinvestor EquiVest und nun dem US-Rüstungskonzern L3 Communications. Bei jedem Wechsel kam das neue Management mit "Anpassungsmaßnahmen": Mal wurden Standorte zusammengelegt, mal eine Kampagne zur Altersteilzeit gefahren, es gab Aufhebungsverträge und sogar Transfergesellschaften.
Betriebsräte: In Deutschland unterliegen Kapitalgesellschaften der Mitbestimmung, wenn sie mehr als 500 Mitarbeiter beschäftigen. Weitreichende Mitbestimmungen greifen bei mehr als 2.000 Mitarbeitern nach dem Mitbestimmungsgesetzes. 694 Unternehmen (Stand: 2008) haben Aufsichtsräte nach dem Mitbestimmungsgesetz gebildet. Großbetriebe mit mehr als 500 Beschäftigten haben in Westdeutschland zu 90 Prozent Betriebsräte, im Osten liegt die Quote bei 85 Prozent. Insgesamt knapp die Hälfte aller Beschäftigten in der westdeutschen Privatwirtschaft wird durch einen Betriebsrat vertreten, im Osten ein gutes Drittel.
Macht im Betrieb: Nur 12 Prozent begrüßten (Stand 2005) eine Verbetrieblichung der Tarifpolitik. Die meisten Betriebsräte (81 Prozent) sehen in der Verlagerung tarifpolitischer Entscheidungen auf die Unternehmensebene einen Machtzuwachs der betrieblichen Arbeitgeber.
(Quelle: Hans-Böckler-Stiftung)
Kurz: Die Zahl der Stellen nahm ab, das Know-how auch. "Einen erneuten Aderlass können wir uns nicht leisten", sagt Merks, der auch mitbekommen hat, wie die Personalabteilung, wenn es wieder besser ging, verzweifelt nach hochqualifizierten Ingenieuren und Konstrukteuren suchte. Dieses Mal ist der Betriebsrat deshalb selbst aktiv geworden, "bevor das Management wieder auf dumme Gedanken" kommen konnte.
Der Branchenverband, die Arbeitsgemeinschaft Schiffszulieferer- und Offshore-Industrie im Verband des deutschen Maschinen- und Anlagenbauer, rechnet damit, dass es nach dem Einbruch Anfang nächsten Jahres frühestens 2012 wieder aufwärtsgeht. Bis dahin will Merks die Belegschaft retten. Deshalb hat er ein "kreativinnovatives Konzept gegen die Krise" ausgearbeitet und mit der Geschäftsführung verhandelt.
Mit Erfolg: Nun gibt es einen "Konsens, dass betriebsbedingte Kündigungen für die nächsten zwei bis drei Jahre ausgeschlossen" sind. Jetzt muss Merks noch die Belegschaft gewinnen. Denn im Gegenzug werden Zeitkonten und ein "interner Kapazitätsausgleich" eingeführt. 20 Mitarbeiter aus der Produktion werden zu Servicetechnikern umgeschult. Statt neue Schaltanlagen und Antriebe zu bauen, die derzeit keiner haben will, sollen sie mithelfen, dass ältere, die nun länger laufen müssen, auch ordentlich gewartet werden. Das passt nicht jedem, zumal der Betriebsrat eingestehen musste, dass L3 Communications aber weiterhin "8 bis 10 Prozent Rendite" erwartet. So sieht manch einer Merks und seine Kollegen inzwischen als "Erfüllungsgehilfen der Geschäftsführung".
"Die gewerkschaftlichen Kämpfe haben sich in die Betriebe verlagert", sagt Josef Esser, Professor für Politikwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ganz neu ist das nicht, sondern ein Ergebnis der zunehmenden Tarifflucht der Unternehmen und der folgenden Flexibilisierung der Tarifverträge. Mit Tarifkämpfen, großen Demonstrationen und branchenweiten Streikdrohungen lassen sich heute kaum neue Mitglieder gewinnen.
Deshalb setzt die IG Metall nun auf den Häuserkampf. Sie erhofft sich wieder mehr Ansehen - und Mitglieder - in den Betrieben, wenn die Betriebsräte und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten dort mehr Macht haben. "Der Betriebsrat muss der Geschäftsführung nicht glauben, wenn die erklärt, dem Unternehmen gehe es schlecht", so Esser. "Er hat Einsicht in die konkreten Zahlen und soll dann auch Sondervereinbarungen treffen können." Die Gewerkschaft halte sich im Hintergrund und sorge "nur dafür, dass alles im Rahmen bleibt".
Dieser Strategiewechsel verändert auch die Rolle der Betriebsräte. Die großen Auftritte von Uwe Hück oder Klaus Franz sind das beste Beispiel: Die Betriebsratsvorsitzenden der Autohersteller Porsche und Opel übernahmen in der Öffentlichkeit quasi die Funktion von Vorstandssprechern. Wenn sich dann wiederum die Konflikte in den Betrieben häufen, weil die Konzernleitungen oder Geschäftsführungen immer drastischere Sparpläne verkünden, müssen die Interessenvertreter wieder umdenken.
Manchmal heißt das nur noch: Sie kämpfen für Sozialpläne, Abfindungen oder Transfergesellschaften. Und das mehr oder weniger erfolgreich. Ob beispielsweise bei der Hertie-Pleite irgendetwas für die Beschäftigten überbleibt, ist fraglich - und auch durch keine Arbeitskampfmaßnahme mehr zu erzwingen.
Aber es passt auch in die Strategie, wenn die Betriebsräte nun versuchen, den Beschäftigten wenigstens zukünftige Perspektiven zu eröffnen, indem sie einen befristeten Lohnverzicht oder die Zustimmung zu Veränderungen in der Unternehmensstruktur an eine Kapitalbeteiligung knüpfen. Bislang war diese Idee in Gewerkschaftskreisen vor allem aus zwei Gründen umstritten: Die Beschäftigten würden damit neben ihrem Arbeitsplatz- auch noch das ökonomische Risiko übernehmen. Und sie könnten sich im Interessenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit schlimmstenfalls käuflich machen.
Zumindest in der Gewerkschaftsspitze glaubt man derzeit aber, dass das alles eine Frage der konkreten Umsetzung ist. Mit dem richtigen Konzept könnten sich die Mitarbeiter nicht nur die Teilhabe an späteren Gewinnen verschaffen, sondern sogar mehr Mitbestimmung sichern - nämlich auf der Eigentümerseite. IG-Metall-Chef Berthold Huber selbst sorgte mit dafür, dass die Führung des Autozulieferers Schaeffler der Belegschaft Firmenanteile zusicherte.
Und auch die Betriebsräte bei Opel und Volkswagen unterstützt er bei der Forderung nach Beteiligung. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte Huber am Wochenende: "In der Krise bringen die Arbeitnehmer Opfer, dafür verlangen sie nun Gegenleistungen. Sie wollen etwas zu sagen haben in den Unternehmen." Laut Huber seien die Arbeiter ohnehin die besseren Aktionäre. Die Höhe möglicher Beteiligungen hänge vom Einzelfall ab.
Bei dem Industriepumpenhersteller Sihi in Itzehoe haben Betriebsrat und Gewerkschaft dieses Ziel auf ganz anderem Weg erreicht. Mit der Drohung, die Arbeit niederzulegen, verhinderten sie eine Betriebsverlagerung nach China und überzeugten die Geschäftsführung von einem "Innovationsprogramm für Kosteneinsparungen und Prozessoptimierung". Abgesichert durch eine Standortgarantie - niemand musste befürchten, sich selbst wegzurationalisieren -, entwickelte die gesamte Belegschaft in Zusammenarbeit mit dem Management Vorschläge für Produkte, Arbeitsprozesse und sogar Unternehmenskultur. Entschieden wurde in der Geschäftsführung unter Beteiligung des Betriebsrats und der Gewerkschaft. "Faktisch war das eine Erweiterung der Mitbestimmung", sagt Uwe Zabel, Chef des IG-Metall-Bezirks Unterelbe. Das Projekt war so erfolgreich, dass es im Juli in einen Tarifvertrag überführt wurde.
Bei SAM Electronics ist die Begeisterung noch nicht so einhellig. Nicht einmal beim Betriebsrat selbst. Denn der Konsens mit der Geschäftsführung beinhaltet nur die Stammbelegschaft. Die Leiharbeiter müssen gehen, befristete Verträge werden nicht verlängert, und bereits outgesourcte Bereiche wie Handwerker, Verpackung und Versand wieder ins Haus geholt - dadurch gehen anderweitig Jobs wieder verloren. "Mir fällt es schwer, die Leiharbeiter nach Hause gehen zu lassen", sagt Betriebsrat Merks. Aber der Betriebsrat wird nicht gefragt, die Verträge mit den Zeitarbeitsfirmen sind Sache der Geschäftsführung, und die Leute selbst gehören nicht zur Belegschaft. "In der Krise spielt den Betriebsräten - oft ungewollt - in die Hände, dass durch die Zunahme prekärer Beschäftigung ein Puffer entstanden ist", sagt Gewerkschaftsexperte Esser.
Die Gewerkschaften wiederum haben sich lange zu wenig darum gekümmert, wie sie an Prekäre herankommen. Nun ruft die IG Metall für den 5. September zu einer Großkundgebung unter dem Motto "Gute Arbeit" nach Frankfurt am Main auf. Aber es gibt auch konkrete Initiativen wie Binz.he in Hessen, mit der der DGB Hessen-Thüringen und der IG-Metall-Bezirk Frankfurt gemeinsam mit den Zeitarbeitsbranchenverbänden versuchen, die Krisenfolgen für Leiharbeiter abzumildern. Einsatzfreie Zeiten sollen durch Kurzarbeit überbrückt und zur Qualifizierung genutzt werden. "Letztlich geht es darum, die Bedingungen für Leiharbeiter zu verbessern", sagt IG-Metall-Zeitarbeitsexperte Thomas Kasper. Neben mehr Sicherheit gehört dazu auch eine bessere Entlohnung. Kasper befürchtet, die praktische Erfahrung, dass "Anpassungsmaßnahmen in den Unternehmen sanfter ablaufen, wenn zuerst Leiharbeiter zurückgeschickt werden können", könne Betriebsräte in die Irre leiten. "Das führt nur zu einer weiteren Entsolidarisierung in den Belegschaften."
Dass es mit der betrieblichen Solidarität auch in den Stammbelegschaften nicht mehr weit her sein muss, bekommt Merks bei SAM Electronics zu spüren: Dem Betriebsrat gelten scheele Blicke. Auch die Atmosphäre im Betrieb leidet. "Viele stellen sich die Frage so: Was bin ich bereit für den Arbeitsplatz meines Kollegen zu geben", sagt Merks. Dass es um das Unternehmen und damit letztlich auch um den eigenen Job geht, verdrängten sie.
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