Beteiligung an Wahlen: „Eine Art Klassenspaltung“
Wer Hartz IV bekommt, geht seltener wählen – ein Trend, der sich weiter verfestigt. Viele, sagt Parteienforscher Lothar Probst, sind „kaum noch erreichbar“.
Wer arm ist, geht seltener wählen. Das ist keine ganz neue Erkenntnis, aber ein Trend, der sich zunehmend verfestigt. In Borgfeld, wo es fast keine Hartz-IV-EmpfängerInnen gibt, war die Wahlbeteiligung am Sonntag mit 86,2 Prozent am größten. Und in Tenever, wo mehr als jeder Dritte von staatlichen Transferleistungen lebt, geht nur jeder Zweite wählen. Ähnlich sieht es im Ohlenhof, der Neuen Vahr Nord oder Gröpelingen aus.
Es gibt einen „ganz deutlichen“ Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung und dem sozialen Status, also dem Einkommen oder dem Bildungsstand, sagt der Bremer Parteienforscher Lothar Probst. Gerade in Bremen sei die Spaltung da „ganz ausgeprägt“. Und zunehmend: Das zeigen Vergleiche mit der letzten Bundestagswahl – wo der Zusammenhang noch nicht ganz so stark war wie jetzt.
Aber auch der Blick auf die Bürgerschaftswahlen 2007 und 2011 zeigt ein ganz ähnliches Bild. Und so spricht Paul Schröder vom Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) bei seiner Wahlanalyse mit Blick auf die Hartz-IV-Quote von einem „erwartbaren Ergebnis“. Hinzu kommt, dass junge Menschen, in Bremen stärker als anderswo von Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen betroffen, sich nicht mehr so „verpflichtet“ fühlten, zur Wahl zu gehen wie jene, die über 60 sind, sagt Probst. Bremen sei da keine Ausnahme.
SPD-Landeschef Andreas Bovenschulte spricht sogar von „einer Art Klassenspaltung unserer Demokratie“. Dagegen „helfen aber keine Aufklärungskampagnen, sondern nur konkrete, vertrauenswürdige Politik“.
Im europaweiten Vergleich stehe Deutschland mit seiner Wahlbeteiligung zwar „gar nicht so schlecht da“, sagt Probst. Aber jene, die besonders auf den Staat angewiesen sind, resignieren bei Wahlen vermehrt. Damit werden sie für die Parteien als Stimmenbeschaffer aber auch immer unwichtiger. „Deren Interessen haben nicht mehr eine so starke Lobby“, so Probst.
Gerade der SPD sei es „nicht gelungen“, Menschen mit niedrigem sozialen Status für sich zu mobilisieren, so Probst. „Sie erreiche diese Wählerschichten nur ungenügend“. Die Linkspartei hingegen, die in Bremen ihr im Westen der Republik bestes Wahlergebnis erzielte, habe „eher Zugang zu Leuten aus diesen Milieus“, sagt Probst.
Dennoch hat die Linke am Sonntag auch in Tenever, Ohlenhof oder der Neuen Vahr Nord gegenüber der letzten Bundestagswahl ganz erhebliche Verluste erlitten. Der Landessprecher der Linken, Christoph Spehr, erklärt das damit, dass 2009 ein „Ausnahmewahljahr“ war, in dem viele die Linkspartei gewählt haben, um die große Koalition zu beenden. Jetzt konnte die SPD im Ohlenhof, der Neuen Vahr Nord oder Tenever klar zulegen. Vergleicht man die letzten Bürgerschaftswahlen, so hat die SPD die Hartz- IV-EmpfängerInnen zuletzt weniger gut, die Linkspartei aber schrittweise besser erreicht.
Ein Teil der Nichtwähler, sagt Probst, sei schon seit Längerem „aus dem System des Wählens ausgestiegen und kaum noch erreichbar“. Wenn doch etwas helfen könnte, so der Parteienforscher, dann ist das mehr Partizipation im unmittelbaren Wohnumfeld, so wie in Osterholz. Menschen, die sich sozial, sportlich oder kulturell engagieren oder Mitmachmöglichkeiten haben, gehen eher wählen, wie die Wahlforschung zeigt.
Spehr findet die „zunehmende Entfernung“ vieler Benachteiligter von der Politik „sehr besorgniserregend“. Medial seien diese Menschen oft nur „schlecht zu erreichen“. Die Linke setzt jetzt weniger auf Anzeigen, mehr auf Plakate, Post im Briefkasten. Aber „mit einmaligen Aktionen“, so Spehr, „bewegt sich da nichts“.
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