Besuch in der EU-Vertretung in Berlin: Europas letzter Tag
Es gibt verschiedene Arten von Europäern: die Überzeugten, die Skeptiker und die Pragmatiker. In der EU-Vertretung in Berlin trifft man sie alle.
Eine besonders zeitlose ist ihren Bürgern dabei besonders dringlich. Eine Grundsatzfrage, auf die sie in Berlin-Mitte, Unter den Linden 78, die Antwort suchen. Mindestens einmal die Stunde schleicht ein Gast dieser Sorte in den Raum und pirscht sich an den Tresen. Dieses Mal ist es eine Mutter mit Kind.
„Tschuldigung, haben Sie ein Klo?“, fragt sie die EU.
„Nein“, antwortet die EU. „Öffentliche Toiletten sind da vorne links.“
Der Europapunkt in Berlin-Mitte funktioniert für die Europäische Union wie ein Kescher. Er liegt zwischen dem Ausgang der S-Bahn-Station Brandenburger Tor und dem Brandenburger Tor. Wer als Tourist die Hauptstadt besucht, flaniert hier in der Regel vorbei; und wer nicht rechtzeitig abbiegt, stolpert durch die offenen Türen automatisch hinein. So kommen jeden Tag Hunderte Bürger mit Europa in Kontakt, selbst wenn sie nicht aufs Klo müssen.
Das Gesicht der EU
Der Raum ist so groß wie die Starbucks-Filiale nebenan. Ein Regal mit Broschüren schlängelt sich um die Wände und hinter einem Tresen, gegenüber dem Eingang, wartet ein echter Mensch. Das ist das Prinzip: Damit die Europäische Union nicht so abstrakt bleibt, so weit weg in Brüssel und so schwer zu durchschauen, dürfen die Bürger hier mit einem echten Menschen sprechen. Er nimmt Beschwerden auf, erklärt die Finanzkrise und erklärt den Weg zum Bahnhof. Er gibt der EU ein Gesicht.
Wie der Mensch heißt, dürfen wir hier nicht schreiben. Mal wieder eine Vorschrift der Europäischen Union, in diesem Fall der Abteilung Bürgerkommunikation der Berliner Vertretung der Kommission. Aber hier soll es ohnehin um etwas anderes gehen: Um die Arten von Europäern, die diesen Raum an einem durchschnittlichen Mittwoch betreten – und darum, wie sie es mit Europa halten.
„Und der Schwarzwälder Schinken?“, fragt Frau Schmitz. „Hm“, macht Herr Schmitz. Familie Schmitz kommt aus Göppingen, Baden-Württemberg, und macht eine Woche Berlin-Urlaub. Auf dem Weg vom Reichstag zur Segway-Tour hat Frau Schmitz durch das Schaufenster die TTIP-Tafeln gesehen, und deswegen stehen sie nun zu viert im Europapunkt: sie, ihr Mann, die Tochter und der australische Austauschschüler.
Den TTIP-Verhandlungen ist die aktuelle Sonderausstellung gewidmet. Das Freihandelsabkommen ist ja noch so ein Thema, dass die Popularitätswerte der Europäischen Union drückt. Die Info-Tafeln sollen beruhigen. „Der TTIP-Prozess ist transparenter als jede andere vergleichbare internationale Verhandlung“, steht darauf. Und: „Die USA und die EU wollen keine Schutzstandards senken.“
Was ist mit den Bauern?
Frau Schmitz beruhigt das nicht. Daheim ist sie fürs Kochen zuständig und sie glaubt nicht, dass die Standards gleich bleiben. „Das verwässert doch alles“, sagt sie. Im Europaparlament dürfe schließlich nur die Industrie mitreden. Die Bauern hätten nichts zu sagen.
„Hm“, sagt ihr Mann. „Stimmt.“ Wie mit Griechenland sei das: Den Kleinen höre keiner zu. Die Griechen wollen kein Hilfspaket und müssen es trotzdem annehmen. Die Deutschen wollen nicht mehr blechen, aber bekommen noch nicht mal eine Volksabstimmung.
Das Vertrauen der Deutschen in die Europäische Union sinkt, das hat das internationale Umfrageinstitut Pew im Frühjahr herausgefunden. Im letzten Jahr bezeichneten 66 Prozent der Befragten die Union als eine gute Sache, in diesem Jahr nur noch 58 Prozent. Die Zahl der Skeptiker steigt und Familie Schmitz ist für diese Art Europäer vielleicht ein gutes Beispiel: Was sie von der EU hat, kann sie auf Anhieb nicht sagen.
Die EU arbeitet derweil daran, dass die Umfragewerte im nächsten Jahr wieder steigen. Sie sitzt hinter ihrem Tresen und druckt Internetseiten der Kommission aus. Dort steht, dass in der Expertengruppe der TTIP-Verhandler auch die Bauern ihren Platz haben. Den Ausdruck steckt sie in eine Papiertüte, zusammen mit einer Broschüre (“Zehn Mythen über TTIP“) und einer Kopie des Verhandlungsmandats. Ein Souvenir aus Europa, das die Schmitzens mit nach Göppingen bekommen.
Botschafter zum Anfassen
Einerseits hatte die Familie Glück: Wäre sie einen Tag später gekommen, wäre die Tür geschlossen gewesen. Wegen Umbauarbeiten macht die Europäische Union mitten in der Krise zu. Bis zum Frühjahr erweitert sie den Europapunkt in Richtung Norden um die Räume eines ehemaligen Sternerestaurants.
Andererseits hatte die Familie Pech. Eine halbe Stunde später, und sie wäre auf eine zweite, besondere Art des Europäers getroffen: den Überzeugten.
Ihr Prototyp heißt Richard Kühnel. Er leitet die Vertretung der Kommission und ist damit quasi Botschafter Europas in Deutschland. Mehr noch: Kühnel, ein Österreicher, ist ein Botschafter zum Anfassen. Wenn er aus seinem Büro im Obergeschoss zum Mittagessen geht, nimmt er nicht den Nebenausgang. Er schreitet quer durch den Europapunkt.
Herr Kühnel, wie steht es um den Schwarzwälder Schinken?
„Der Schinken und die Spreewaldgurken, danach fragen die Leute immer! Mit den Kanadiern haben wir uns schon auf eine Liste geeinigt. Bei denen werden europäische Herkunftsangaben in Zukunft geschützt. Mit den Amerikanern bekommen wir das hoffentlich auch hin.“
Krisen sind sie gewohnt
Dann legt Kühnel sein Diplomatenlächeln auf und alle Probleme verschwinden; der Ärger um TTIP, der Zoff um den Euro, die Sorge um den Kontinent. Egal was Kühnel sagt, aus jedem seiner Worte klingt ein kleines „Das wird schon“.
Diese Aura umgibt nicht nur den Chef, sie schwebt um die Mitarbeiter des EU-Parlaments im zweiten Stock und um die der Kommission im dritten Stock. Wer für die Europäische Union arbeitet, den haut eben nichts mehr um. Die Geschichte der Union ist schließlich eine Geschichte der Krisen. Wer hier arbeitet, kennt Krisen seit der Probezeit – und weiß, dass es hinterher noch immer weiterging.
Es gibt allerdings noch eine andere Art des überzeugten Europäers. Diese Art arbeitet nicht hier. Sie ist weniger hart im Nehmen als die Vollzeit-Überzeugten und macht sich deshalb Sorgen. Diese Spezies betritt den Raum am frühen Nachmittag.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt die EU. „Ich kenne mich aus“, sagt Christine Müller. Sie ist Stammgast. Wenn sie in der Nähe ist, kehrt sie hier immer ein. Dann kontrolliert sie die Broschüren, und wenn eine neue erschienen ist, packt sie für ihre beiden Enkel zwei Exemplare ein.
Die Überzeugte
Müller, eine Dame mit Perlenkette und Samthandschuhen, kommt gerade von der Baustelle des neuen Stadtschlosses. Das alte Schloss hatte sie als Kind noch gesehen, da war es schon eine Ruine, die SED ließ es 1950 abreißen.
Später lebte Müller in Westberlin. 33 Jahre lang arbeitete sie im Stadtbüro der Lufthansa. Ein komplizierter Job: Inlandsflüge musste sie ihren Kunden zum Beispiel bei Pan Am buchen, weil die Alliierten der Lufthansa nicht erlaubten, über die Mauer zu fliegen.
Von Krieg und Grenzen hat Müller seitdem genug. Deshalb ist sie so überzeugt vom geeinten Kontinent und müht sich, auch aus ihren Enkeln gute Europäer zu machen. Nur: Wie soll sie denen erklären, was sie selbst nicht mehr versteht? Den Euro? Die Flüchtlinge? Und TTIP?
„Ist das nur für die Konzerne oder sind da auch die kleinen Händler drin?“, fragt Müller. „Es geht darum, Handelsbarrieren zwischen den USA und Deutschland abzubauen“, antwortet die EU. „Kanada ist auch dabei!“, sagt Frau Müller. „Das ist ein anderes Abkommen.“ Merke: Auch für überzeugte Europäer kann Europa kompliziert sein.
Die Pragmatikerin
Am Nachmittag lässt der Andrang nach. Die EU räumt schon mal ihre Schubladen aus. Eine alte Frau will wissen, wann Norwegen den Euro einführt. Eine Lehrerin aus Düsseldorf braucht Broschüren für die Oberstufe. Jemand will aufs Klo.
Und dann kommt Sylvia.
Es gibt da diese Sorte Europäer, der geht es nicht um die Krise und nicht um den Krieg, noch nicht einmal um den Schinken und die Spreewaldgurke. Es sind die Pragmatiker.
Sylvia hat gerade ihr Studium begonnen, Bachelor in Business Administration. Nächstes Jahr muss sie ein Praktikum ableisten und nun wollte sie sich mal schlau machen, welche Möglichkeiten es bei der Europäischen Union gibt. „Gute Idee, schnell bewerben“, sagt die EU und druckt ein paar Internetseiten aus. „Super, werde ich machen“, sagt die Studentin.
Ernsthaft, Sylvia? Die Europäische Union? Ist das ein Arbeitgeber mit Zukunft? Warum nicht lieber zum Bundestag?
„Na ja“, sagt Sylvia. „Ich komme aus Bonn. Von dort ist Brüssel näher als Berlin.“
Da können sich Schäuble und Tsipras also noch so zoffen, da könnten die Briten zehnmal austreten und der Europapunkt könnte bis 2020 schließen: Irgendwie ist Europa trotz allem verdammt nah zusammengewachsen.
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