Besuch im Holstentor: Das schiefe Tor von Lübeck

Die Nazis haben versucht, das Holstentor zum Zeichen nordischer Wehrhaftigkeit zu machen und umgebaut. Und zwar so, dass einem schwindlig wird.

Nicht nur Pisa kann mit etwas Schiefem werben: In Lübeck steht das Holstentor, da wird einem im Innern schwindlig - hier eine Illusration mit einem extrem schief stehenden Gebäude

In Lübeck steht das Holstentor, ein touristischer Hotspot. Man sollte unbedingt auch hingehen Illustration: Jeong Hwa Min

LÜBECK taz | Es ist immer gut, einen wohlvertrauten Ort auch mal mit neuen Augen zu sehen. Vielleicht mit dem Blick desjenigen, der sich einem Bauwerk erstmals nähert, das er bis dato nur von den 50-­D-Mark-­Scheinen kannte: Genau, das Lübecker Holstentor haben für unseren kleinen nordischen Ausflug gewählt: Lebhaft erinnern wir uns noch an unseren Schock beim ersten Anblick: So winzig, armselig, verkehrsumtost: Das sollte das berühmte mittelalterliche Stadttor sein? Welch ein Betrug, welch jäh zerplatzte Illusion!

Inzwischen hat man sich daran gewöhnt, findet es recht stattlich und ist selbst als Zugereister stolz darauf. Lang aber ist’s her, dass man den Innenraum betrat, das Stadtmuseum von 1950. Umso dringlicher, es nachzuholen. Und da kann man gleich anfangen über die schmale, steile Wendeltreppe nach oben zu kraxeln.

Oben, das ist das erste Ausstellungsgeschoss mit fünf Fässern samt drehbaren Infoscheiben, die an Jahresringe erinnern. „Fernhandel“ lautet ihr Thema, und merkwürdigerweise werden nur drei der vier einstigen Hansekontore genannt – Brügge, Bergen, London, eines pro Fass. Statt des vierten, „Nowgorod“, hat man allerdings „Russland, Baltikum, Preußen“ geschrieben und noch ein Fass für „Lüneburg und Schonen“ dazugestellt. Von im- und exportiertem Stockfisch, Tuch, Pech und Pelzen erfährt man hier. Von der Wand baumeln Säcke, damit man sich echt „fernhandelsmäßig“ fühlt.

Eine konzeptuelle Dopplung

Ein bisschen zusammengewürfelt wirkt das Ganze, und wenn man die nette Dame vom Tresen fragt, ob sich das nicht doppele mit dem Hansemuseum nahebei, schwört sie Stein und Bein, dass hier sei ein völlig anderes Konzept. Später ruft ihre Chefin an und sagt, natürlich sei das eine Doppelung, und bei der nächsten Sanierung werde das geändert.

Aber wie auch immer, ein bisschen mittelalterlich wird einem schon zumute in dem Backsteingemäuer mit Kanonen und Gewehren in den Schießscharten. Nur dass von hier nie ein Schuss fiel und dass diese Waffen nichts mit dem Holstentor zu tun haben. Aber da es nun mal zur Stadtverteidigung gedacht war, fühlte man sich wohl verpflichtet, eine Handvoll Waffen hineinzugeben.

Es sollte schon mal abgerissen werden

Außerdem kann man dankbar sein, dass das Tor überhaupt noch steht: Mit einer Stimme Mehrheit entschied Lübecks Rat 1863, es nicht abzureißen, obwohl es schon eine Ruine war und dem geplanten Bahnhof im Wege stand. Genüsslich haben Tourismus- und Süßwarenindustrie das Tor seither zum Wahrzeichen gemacht. Im Café gegenüber wird es gar als riesiges Marzipanmodell feilgeboten.

Dabei ist die jüngere Vergangenheit des Tors gar nicht so appetitlich, wollten die Nazis es doch zur Insigne nordisch-germanischer und speziell Lübecker Wehrhaftigkeit machen, mit Aufmarschplatz und Malereien. Wovon drinnen ein Aquarell Arthur Illies’ zeugt, der Hakenkreuze an die Decke und „Hitlergruß“-Männer an die Wände malen lassen wollte. Irritierend beiläufig steht da, dass dieser Entwurf „nicht umgesetzt“ wurde, als sei das eher bedauerlich.

Auch beim Stadtmodell nebenan wundert man sich über die überdimensionierten Verteidigungs- und Befestigungsanlagen. Dann liest man, winzig an der Wand, dass SchülerInnen dies 1934 bastelten. Da war das NS-Regime auch in Lübeck schon installiert.

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Und als sei weiter nichts gewesen, setzt sich der geleitete Rundgang fort mit dem Thema „Macht“ und erzählt auf einem Bild vom 1363 öffentlich enthaupteten Bürger­meister Johann Wittenborg. Offi­ziell wegen einer militärischen Niederlage, aber die genaue Urteilsbegründung ist nicht überliefert. Daneben, in schmucker Vitrine, steht (!) ein Richterschwert jener Zeit. Es reicht einem bis zur Hüfte, und dass es nicht das „original Wit­ten­borg’sche“ ist, macht die Sache nicht besser: Frisch auf Hochglanz poliert, scheint es auf den nächsten Delinquenten zu warten.

Überhaupt ging es brutal zu im Lübeck vergangener Zeiten; Streckbank, Daumenschrauben und das Becken für glühende Kohlen, mit denen die Brand­mark­eisen erhitzt wurden, sprechen eine deutliche Sprache.

Warum der Raum so hoch ist

Aber genug gegruselt. Steigen wir noch ins Obergeschoss, an dessen Decke allerlei Schiffsmodelle hängen. Warum der Raum so hoch ist? Weil die NS-Granden Zwischenböden herausnahmen, um eine repräsentative Weihehalle zu schaffen. Bei der Gelegenheit haben sie auch das einsturzgefährdete Tor stabilisiert und die Innenböden begradigt. Die stark geneigten Mauern nicht.

Und jetzt versteht man, warum einem die ganze Zeit so schwindlig ist: Weil man gerade steht, aber Schiefes sieht. Das kriegt das Hirn nicht zusammen, und man wankt mit letzter Kraft nach unten.

Puh, geschafft. Da geht man vorerst nicht mehr rein.

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Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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