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Besuch der Musikmetropole MiamiCaptain Schmeißfliege

Soul-Legende Clarence Reid hat eine zweite Identität. Manchmal wird er zu Captain Blowfly und singt über den Ku-Klux-Klan und übers Wichsen.

Wenn er nicht Clarence Reid ist, ist er Captain Blowfly, die Schmeißfliege. Foto: imago / blickwinkel

Jetzt flucht Clarence Reid wieder. Kein Entkommen. Sein Backstagebereich ist die Abseite unter einer Treppe, gerade groß genug, dass er sich ein Cape überwerfen kann. Diesmal trägt er Khaki-Hosen und ein Secondhand-T-Shirt in Übergröße. In Clarence’ Adern fließt auch Indianerblut, was seinen Flüchen, auch wenn sie auf komische Art profan sind, etwas Unheimliches verleiht.

Der Fluch, mit dem er mich bedenkt, ist eindeutig klimatologischer Natur. Meine Weichteile und die meiner Vorfahren sollen ins Meer fallen. Glücklicherweise müsste ich mich in der Nähe des Ozeans befinden, damit das eintreten könnte – wenngleich steigende Meeresspiegel Clarence in die Hände spielen.

Dennoch, es ist eine Ehre, dass sich diese Legende des Soul Zeit nimmt, mein persönliches Schicksal zu verfluchen. Was immer passiert, meine Kopie von Gwen McCraes Album, das Reid 1974 für sie komponiert hat, wird mit mir und meinen Hoden baden gehen. Das Fluchfeuerwerk ist alltäglich für eine Type, die schon mit gigantischem Stinkefinger zur Welt kam. Überlebenswichtig für einen Schwarzen, der im segregierten Süden der USA aufwachsen musste.

Mit elf Jahren riss Clarence Reid von zu Hause aus und verdiente sein Geld damit, dass er seinen schmutzigen Sinn für Humor dafür einsetzte, die Stars der Zeit zweideutig zu parodieren. Mit seinen Zoten brachte er schockierte Erwachsene dazu, ihm ein Busticket von Vienna/Georgia nach West Palm Beach in Florida zu spendieren.

Degenerierte Rap-Biene

Als Captain Blowfly erfindet Clarence Reid nun seit 65 Jahren immer neue Schimpfwörter und terrorisiert bzw. unterhält damit die USA, was ihn zu einem Botschafter des nachhaltigen Verfalls macht. Dem würde jeder lebende Rapper zustimmen. Rap-Experten würden sogar behaupten, dass Clarence Reid den Ausdruck zombie pussy erfunden hat. Wenn er maskiert und kostümiert die Bühne betritt, wird das allerdings oftmals missverstanden, man nimmt an, Clarence Reid verwandelt sich dann in Blowfly, die Schmeißfliege.

Doch die Dinge liegen komplizierter. Weder Reids Exfrau noch seine Mutter wussten, dass er als degenerierte Rap-Biene aufgetreten ist. Denn zeitgleich komponierte Clarence Reid immer radiotaugliche Hits für Soul-Künstlerinnen wie Betty Wright und Gwen McCrae, nahm dafür die weibliche Perspektive ein, um Gemütszustände von Freude bis Qual auszudrücken. Blowfly spricht von dem Typen, der Soul-Hits wie “Your Love Has Got A Hold on Me“ aufgenommen hat, als „saubere Version“ seiner selbst.

Ich habe Timmy Thomas, einen seiner Labelkollegen bei Henry Stones TK Records in Miami, gefragt, ob er sich erinnern kann, dass Clarence einfach mal er selbst war. „Ja, beim ersten Treffen. Seither sind mehr als 40 Jahre vergangen, und er erzählt nur noch absurdes Zeug.“ Reid sieht das ähnlich. „Ich musste Clarence und Blowfly voneinander trennen, denn Clarence sollte nicht ins Gefängnis für etwas, das Blowfly ausgefressen hat.“

Clarence war immer Blowfly, benannt nach einer blauen Schmeißfliege, die ihre Eier in tote Kreaturen legt, die Welt gewissermaßen zu einem saubereren Ort macht. Will man gemein sein, sind Blowfly-Alben einfach das Deckmäntelchen für die Hygiene-Obsessionen von Clarence Reid. Das Wort „Blowfly“ mit all seinen Bedeutungsebenen wurde auch in Shakespeares „The Tempest“ erwähnt, einem Werk, das voller derber Flüche steckt.

Damit die Welt ein besserer Ort wird

Reid bekam seinen nekrotischen Spitznamen von seiner Großmutter verpasst, als sie erfuhr, dass er für Geld einen Song übers Wichsen mit einem Bild von Minnie Pearl in der Hand gesungen hat, untermalt von Ernest Tubbs’ Countrysong „I’m Walking the Floor Over You“. In einem Alter, in dem Kinder oft für nervige Schädlinge gehalten werden, steuerte Clarence Reid als Blowfly wertvolle Beiträge zum Ökosystem bei. Jeder, der einen Song über das Plattwalzen von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern mithilfe eines 18-rädrigen Trucks macht, trägt dazu bei, dass die Welt ein besserer Ort wird.

Dave Tompkins lebt als Autor in New York. 2011 erschien sein Buch „How To Wreck A Nice Beach. The Vocoder from World War II to Hip-Hop. The Machine speaks“. Momentan schreibt er an einer Musikgeschichte Miamis.

„Wenn du deine Kinder zu einem Blowfly-Konzert mitnimmst, hast du sie verloren“, warnt Timmy Thomas. Ich traf mich mit ihm ganz in der Nähe des Hauses von Blowflys Mutter in Miami Gardens. Sein orangefarbenes Polohemd passte zu den orangefarbenen Wänden, die mit goldenen Schallplatten und Ehrungen dekoriert sind. Thomas wird oft als „netter Typ von nebenan“ beschrieben, und so ist er auch gewieft darin, durch die Blowfly-Unterhaltung zu navigieren. Oft verblendet er dessen vulgäre Ausdrücke mit Piepsern und dem wohlgesetzten „Pumpkinhead“.

„Clarence hat viele großartige Songs geschrieben. Durch ihn hab ich angefangen, auf mein Herz zu hören.“ Dass Thomas’ eigener Song “Why Can’t We Live Together“ zum Hit wurde, kam unvorhersehbar. Schwer möglich, zu diesem Song zu tanzen, weil darin Leute aufgefordert werden, sich nicht mehr gegenseitig umzubringen. Thomas komponierte das Lied 1972, nachdem Walter Cronkite in seiner CBS-Nachrichtensendung die Zahl der Todesopfer in Vietnam verkündet hatte – zwei seiner Brüder waren zu jener Zeit in der U.S. Army stationiert.

Düstere 90 Sekunden

„Why Can’t We Live Together“ beginnt verhalten, ohne Gesang. Es dauert düstere 90 Sekunden, bevor Thomas die berühmte Frage des Titels stellt. Bis dahin erklingen Orgelhiebe und ein bedrückter Ton, ein Klopfen und ein Zischen in der Lowrey-Orgel, die versuchen, da rauszukommen. Bereit für die Zukunft, mit eingebauter zurückstrahlender Rhythmus-Funktionalität. Radio-DJs liebten diesen Song. Das ausufernde Intro gab ihnen genügend Zeit, die schlechten Nachrichten loszuwerden. Sie nutzten Thomas’ Aufruf zum friedvollen Miteinander, um ansatzlos in die Heavy Rotation überzublenden.

Der Song spukt seit seiner Veröffentlichung durch Miami. Weil „Why Can’t We Live Together“ aktueller ist denn je, wird die Voreinstellung zum Muster – die Welt kann sich kaum selbst ertragen, gibt alle naselang trostlose Antworten auf die Frage des Songs. Seine Intimität klingt bisweilen einsam, ohne ein Gegenüber, als würde Thomas nur zu seinem eigenen Refrain predigen.

Wenn du versuchst, einen Augenblick an nichts zu denken, dir aber immerzu die neuesten schlechten Nachrichten in den Sinn kommen, kommt es vor, dass du dich fragst, ob Timmy überhaupt auftauchen wird und sich dazu überwindet, die Frage zu stellen. Aber die Stimme von Timmy Thomas setzt immer ein.

Kurz nach meinem Besuch bei Thomas in Miami Gardens treffe ich King Sporty, seinen Entdecker, der „Why Can’t We Live Together“ zunächst auf seinem Label Konduko veröffentlichte, bevor er den Song an Henry Stone weiterverkaufte. Es sollte eines der letzten Interviews werden, Sporty starb im Januar 2015. „Stone zahlte mir umgerechnet 64.000 Euro für diesen Song. Viel Geld. Henry und ich, wir waren Partner. Wurde mein Geld knapp, gab er mir Neues. Für mich war er der Musik-Heilige von Miami“, sagt Sporty.

„Mein Körper fällt auseinander“

Zudem war Henry Stone Leumundszeuge, als King Sporty Schwierigkeiten mit dem Gesetz bekam. „Du weißt, woher du kommst, wenn du weißt, wo der Friedhof liegt“, kichert Sporty. Eine Krebserkrankung rückte dem 71-Jährigen seine Sterblichkeit ins Bewusstsein. Er deutet auf eine lange Narbe auf seiner Brust und spricht mit einem kaum vernehmbaren Krächzen. Mit den Ausschüttungen für ein Sample, das Justin Timberlake in „That Girl“ benutzt hatte, beglich er die Krankenhausrechnungen.

„Mein Körper fällt auseinander.“ Sporty ist mit seiner Ehefrau Betty Wright verabredet. Eine TK-Institution auch sie. Wright wiederum hat mit Clarence Reid zusammengearbeitet. Wie es nun mal so ist in Miami, sind sich Sporty und Clarence kurz vor unserem Gespräch über den Weg gelaufen. Sporty erzählt, dass Clarence bei TK einen speziellen Spitznamen hatte. Wenn er bei den Aufnahmen Fehler machte, benutzte er immer dasselbe Four-Letter-Wort: „Oops!“ Also tauften sie ihn Oops!.

Es ist Zeit für Blowfly weiterzumachen, aber der kleine Backstage-Raum ist seiner Laune nicht zuträglich. Außerdem ist er pleite und kurz davor, sein Haus wegen Steuerschulden zu verlieren. Um Zeit zu gewinnen, hat Blowflys Manager Tom Bowker eine Soli-Kampagne gestartet.

Bowker, der einst mit Blowfly zusammen als Mumie verkleidet auftrat, kommt zur Tür herein. In der Hand hält er Blowflys Bühnenoutfit: ein paillettenbesetztes Lucha-Libre-Wrestling-Kostüm. Auf der Brust prangt das BF-Logo. Auf dem Weg nach draußen fällt mir ein kleines Marihuana-Tütchen ins Auge. Die Aufschrift „Great Bass Fuse“, „Großer Bass-Zünder“, beschreibt seinen Inhalt.

Während sich Clarence gerade in Form bringt, bemerke ich noch zwei fast antike Überwachungsmonitore, die hinter ihm an der Wand hängen. Sie glimmen leer und teilnahmslos, als wäre die Welt da draußen in Vergessenheit geraten und würde nur darauf warten, dass Blowfly, die große Schmeißfliege, sich materialisiert und sie fluchend wieder zum Leben erweckt.

Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Prahl

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