berliner szenen: Bester Tag am Hauptbahnhof
Komisch. Irgendwas ist anders. Ich bin gar nicht gestresst. Dabei hat uns die Baustelle am Tiergartentunnel aufgehalten, dank Umleitung quälte sich der M41 in Schritttempo durch eine kreischende Touri-Meute am Reichstag. Die Menschen waren überall, vor allem auf der Fahrbahn, bewegungslos – wie ein riesiger Mettigel, rosig, gespickt mit Selfiesticks.
Jetzt sind wir endlich am Bahnhof, und ich soll schon eine Obdachlosenzeitung kaufen. Links trage ich die Reisetasche, der Tragegurt schneidet sich mir in die Schulter; rechts den Hundekoffer mit Hund darin.
Die Mutter holt sich belegte Brötchen und ein Mineralwasser für die Fahrt, ich lasse mich beim Warten zu einer weiteren Zeitung überreden. Auf dem Weg zum Gleis fällt mir eine ältere Dame auf. Weil die Rolltreppe außer Betrieb ist, schultere ich ihre Tasche ebenfalls. So bringe ich die Mama, den Hund und die Dame zum Zug und winke zum Abschied.
Normalerweise werde ich sentimental bei so was. Schon beim Betreten eines Bahnhofs oder Flughafens – aber was ist denn heute los mit mir? Ich bin gut drauf!
Jetzt fragt mich ein Inder, wo hier die U-Bahn fährt. Ich erkläre ihm, dass hier nur Fernzüge fahren. „Aber hier ist doch unten?“ –„Jaa, schon.“ Ich bringe ihn zur U5. Wieder winke ich zum Abschied.
Weil noch eine Rolltreppe ausfällt, helfe ich einem älteren Herrn mit einem wuchtigen Koffer aus einer Zeit, als es nur Kopfsteinpflaster gab und Rollen gar nichts gebracht hätten. Er dankt mit einer Geste aus einer Zeit, als man noch den Hut hob als Zeichen des Respekts.
Ich bin wieder oben. Und weiter obenauf. Noch nie hatte ich so gute Laune hier. Die beiden Strassenfeger habe ich den Frauen mitgegeben. Hauptbahnhof, ich wusste gar nicht, dass du so sein kannst. Oder lag es immer an mir? Lars Widmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen