Besessener Dokumentarist: Der Hannover-Fetischist
Bernd Schwabe will ganz Hannover auf Wikipedia dokumentieren und widmet dieser Idee Woche um Woche bis zu 100 Stunden.
Bernd Schwabe nennt sich einen Dokumentaristen. Einen Hannover-Dokumentaristen. Jede Woche ist er bis zu 100 Stunden in Niedersachsens Hauptstadt unterwegs, zieht durch die Straßen, macht Fotos und schreibt dann alles auf und veröffentlicht es bei Wikipedia. Er macht das für die Befreiung des Wissens, sagt er, und für eine Welt, in der jeder dieses Wissen jederzeit abrufen könne. Er hat mittlerweile mehr als 1.400 Artikel bei dem Online-Lexikon veröffentlicht.
Schwabe ist Mitte 50, trägt eine helle Schiebermütze und eine John-Lennon-Brille. Viele werfen Schwabe übertriebenen Lokalpatriotismus vor oder unterstellen ihm gar einen Fetisch für Hannover. Ein Redakteur eines Hannoveraner Stadtmagazins sieht in Schwabe gar den Inbegriff eines Wutbürgers, der dem Zeitgeschehen in Hannover pedantisch hinterherhechelt.
Alles dokumentieren
Schwabe sieht das anders, mit Hannover habe seine Akribie eigentlich gar nicht so viel zu tun. „Es ist nun mal Hannover, weil ich hier lebe und dauerhaft vor Ort bin“, sagt er. „Es könnte auch jede andere Stadt sein, aber ich möchte eben an diesem Beispiel zeigen, wie eine ganze Stadt dokumentiert und digitalisiert werden kann, damit sich auch die jüngere Generation mit der Geschichte Hannovers auseinandersetzt.“
Es geht ihm dabei nicht nur um das Festhalten von bereits Vergangenem. „Alles, was jeden Tag geschieht, muss doch einer dokumentieren, sonst nimmt keiner davon Notiz und es gerät wieder in Vergessenheit“, sagt Schwabe. So zieht er also unermüdlich durch die Stadt, immer seine Kamera in der Hand und seine Wikipedia-Visitenkarte am Revers.
Vor den Bagger geworfen
Es kommt vor, dass Schwabe seine Rolle als Dokumentarist verlässt. Als im November 2012 die Restaurierungsarbeiten um die Nikolaikapelle in Hannovers Stadtzentrum begannen, warf sich der gelernte Bürokaufmann kurzerhand vor den Bagger. „Die wollten tatsächlich an einer denkmalgeschützten Kirche, dem ältesten Gebäude Hannovers, Erde und Gestein abtragen“, sagt Schwabe. Auch auf dem historischen St.-Nikolai-Friedhof neben der Kapelle rückte der Bagger an, bei den Erdarbeiten wurden menschliche Gebeine freigelegt und dann einfach liegengelassen.
„Die haben wohl noch nie was von einem Denkmalschutzgesetz gehört“, sagt Schwabe. Er schrieb bei Wikipedia über die Baggeraktion, über seine Blockade, veröffentlichte Fotos, schließlich griff die Lokalpresse das Thema auf und Bürger begannen zu protestierten. Am Ende musste die Stadt Hannover extra einen Archäologen abstellen, der die Umbauarbeiten begleitete. Ein Erfolg, den Schwabe sich auf die Fahnen schreibt. Über Wikipedia ließe sich eben doch was bewegen.
Wikipedia ging 2001 online und funktioniert bis heute als Non-Profit-Projekt. Allein die deutschsprachige Wikipedia umfasst derzeit rund 1,8 Million Artikel. 1.409 sind von Schwabe und es werden fast täglich mehr. Er schreibt über das Gartenhaus im Stadtteil Nordstadt, die Mechanische Weberei oder den Stahlradverein Laatzen von 1897. Bei Wikipedia kann jeder schreiben, regelmäßig aktiv sind in Deutschland 500 bis 1.000 Wikipedianer, wie die Viel-Schreiber sich selbst nennen. Die genaue Zahl weiß man nicht.
Es gibt fünf Regionalbüros in Deutschland und das in Hannover quillt über vor Büchern und Aktenordnern. Es ist in den Räumen des Freundeskreises Hannover untergekommen, einem gemeinnützigen Verein zur Bürgerbeteiligung. „Das geht gut zusammen“, sagt Schwabe. Hier trifft er sich zweimal im Monat mit anderen, um gemeinsam Wikipedia-Artikel zu bearbeiten. Einmal im Monat gibt es einen Stammtisch, da reden sie nicht nur über Wikipedia, also theoretisch jedenfalls.
Die anderen, die dieses Mal zum Stammtisch gekommen sind, wollen ihren Klar-Namen nicht in der Zeitung lesen, das Wikipedia-Pseudonym muss reichen: Raboe, Stobaios und Klaaschwatzer. Raboe ist mit Mitte 40 der jüngste in der Runde und er dokumentiert mit seiner Kamera seine Italien-Reisen für Wikipedia. Einmal lichtete er einige ostfriesische Inseln von einem Helikopter aus ab. Den Flug bezahlte die Wikimedia Deutschland, die auf Antrag solche Projekte fördert. Das Geld für den Beamer im Hannoveraner Wikipedia-Büro kommt auch aus diesem Topf.
Klaaschwatzer ist mit über 70 Jahren der älteste in der Hannoveraner Gruppe. Er ist noch nicht lange dabei und lässt sich von seinen Mitstreitern die Gepflogenheiten und die Benutzeroberfläche von Wikipedia erklären. Einen Artikel hat er schon geschrieben, über seine Heimat im Westerzgebirge. Stobaios interessiert sich für Burschenschaften und Verbindungen und schreibt darüber in Wikipedia. So Hannover-fixiert wie Bernd Schwabe ist aber keiner von ihnen.
Schwabes Augen leuchten, wenn er von seinem jüngsten Coup, wie er nennt, erzählt: Er hat herausgefunden, dass der riesige Leipniz-Keks, der im Januar 2013 öffentlichkeitswirksam vor dem Bahlsen-Konzern gestohlen wurde, von Figuren eines Bildhauers aus Hannover-Linden gehalten wurde. Beim Durchstöbern seiner Dokumente – er kauft alles auf, was er an Originalen aus Hannovers Geschichte finden kann – stieß er auf den Bürgerbrief des Bildhauers Georg Herting. Herting hat einige bekannte Baudenkmäler und Skulpturen wie den Hänsel-und-Gretel-Brunnen in der Lister Straße in Hannover entworfen – und eben auch die Brezelmänner, zwischen denen der vergoldete Messing Keks vor der Bahlsen-Zentrale baumelt.
„Keine Aussage ohne Beleg“, lautet Schwabes Motto. „Leider ist die Wikipedia-Community bisher viel zu klein, um alle Artikel ausreichend zu sichten und zu bearbeiten, denn die meisten Menschen bedienen sich nur bei Wikipedia, arbeiten aber nicht daran mit“, sagt er. Außerdem verwechselten die Leute für Schwabes Geschmack zu oft Meinung mit Wissen, sie recherchierten nicht gewissenhaft.
Als irrelevant eingestuft
Wikipedia ist für Schwabe fast schon ein Vollzeitjob. Wird auch nur ein Buchstabe in einem von Schwabes 1.409 Einträgen verändert oder gelöscht, bekommt er eine Nachricht von Wikipedia. „Durch diese Beobachtungsliste ist man Geisel seiner eigenen Arbeit und trägt jeden Tag Verantwortung, dass die Einträge sauber und wahrheitsgetreu bleiben“, sagt Schwabe. Damit hat er viel zu tun.
Es kommt nicht so selten vor, dass Schwabes Einträge als irrelevant eingestuft werden, weil er eben auch über kleine Straßen und nicht berühmte Persönlichkeiten schreibt. Für ihn ist in Hannover eben alles relevant. Dass andere das nicht so sehen, damit muss er leben. Auch damit, dass einige seiner Artikel gelöscht werden, wie der über August Hölscher, einem Tapetenfabrikanten aus Langenhagen. Relevanz nicht belegt und raus, so lautete das Urteil der Qualitätssicherung von Wikipedia.
Schwabe hält das aber nicht von seinem Plan ab, ganz Hannover dokumentieren zu wollen. Für ihn sei Wikipedia ein Instrument, um gegen die Verdummung und Ungerechtigkeiten zu kämpfen, sagt er. Er will Wissen aus Büchern in die digitale Welt überführen. „Es ist das größte Bildungsprojekt der Menschheitsgeschichte, jeder kann daran teilhaben, Wissen aufzunehmen und selbst weiterzugeben“, sagt er.
Und er wolle eben auch seinen Teil beitragen – über Hannover. „Mein Ziel ist es, ganz Hannover, alle Straßen, Denkmäler, wichtigen Persönlichkeiten und Menschen, die hier gewirkt haben und wirken, in Wikipedia einzutragen“, sagt er. Er werde sicher nicht lange genug leben, um das auch wirklich zu schaffen, aber er könne es ja wenigstens versuchen.
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