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Bert Schulz analysiert ein Gruppenbild aus dem Jahr 2021Das Geheimnis der Frau in Grau

Das obige fotografische Bild aus den frühen 20er Jahren des 21. Jahrhunderts zeigt eine zehnköpfige Gruppe erwachsener Menschen, angeordnet um eine Bank mit abgenutztem, früher möglicherweise grünem Lederbezug. Nur drei sitzen, die restlichen sieben stehen. Der Raum ist mit Kunstlicht beleuchtet; um welchen Ort es sich handelt, ist nicht bekannt.

Warum lediglich drei Menschen sitzen, bleibt auch unklar. Zwar wurde offenbar versucht, die Gruppe um die Person mit der markanten Brille in der Bildmitte zu arrangieren. Doch der beklagenswerte Zustand der Bank sowie der formale Dialog der drei Personen auf der Bank untereinander – der Mann und die Frau rechts haben lockeren Blickkontakt, der zweite Mann am linken Rand lächelt glücklich und ist der Person in der Mitte körperlich zugewandt – lassen eine solche Hierarchisierung fraglich erscheinen. Auch wohnt dem Bild eine beinahe chaotische Unruhe inne, die einer solchen Hierarchie widerspricht, was sich an der subtil arrangierten Blickführung zeigt: Jede/r schaut woandershin, ein gemeinsames Ziel ist nicht auszumachen.

Eventuell ist die Unterscheidung zwischen Stehenden und Sitzenden rein zufällig, etwa weil Erstere schlicht zu spät zum Fototermin kamen. Oder die Positionierung ist Ausdruck der Gefühlswelt der Gezeigten: Personen im Vordergrund neigen zum Lächeln, im Hintergrund überwiegen ernste Gesichtszüge. Man sollte sich aber hüten, in diesen Ausdruck, der oft nicht einmal einer Hundertstelsekunde entspricht, zu viel hineinzuinterpretieren.

Das Arrangement der Fotografie hingegen weist weitere Auffälligkeiten auf: So ist in der hinteren Bildmitte ein gläsernes Fenster, wohl eher eine Tür zu entdecken. Es könnte der Hinweis auf einen Ausgang, ein Ende sein. Auch die langen Schatten, die die Füße der sitzenden Prot­ago­nis­t*in­nen werfen, legen einen solchen Schluss nah. Sie symbolisieren eine Abendstimmung. Vielleicht kommen die zehn so nie wieder zusammen?

Wenig Rückschlüsse lässt hingegen der Kleidungsstil zu: Einige Personen – Männer wie Frauen – sind eher leger gekleidet, andere formal in Anzug und Krawatte oder Kleid. Offenbar scheint es sich aber – auch das wohl symbolhaft – um einen kalten, vielleicht zugigen Ort (vgl. die Tür im Hintergrund) zu handeln: Zwei der Frauen tragen Schals, was dem Setting in einem Innenraum nicht angemessen erscheint. Hinzu kommt: Die Farben der jeweils kunstvoll drapierten Accessoirs sind nicht aufeinander abgestimmt. Ein in seiner Deutlichkeit (ein Schal ist leuchtend orange, eine grelle Ampelfarbe, die Rückschlüsse auf Aufgaben der Person zulassen könnte) nicht zu unterschätzendes Zeichen für die inhaltliche Diversität der Gruppe.

Aufgrund der oben genannten fehlenden Eindeutigkeiten fällt es schwer, den abgebildeten Personenkreis klar einer Berufsgruppe zuzuordnen. Herrschaftssymbole oder Insignien einer Zugehörigkeit fehlen, der Raum ist schmucklos, die Bank zu klein für alle, also keine Regierungsbank.

Die Lampen, seit Jahrhunderten als Symbol für aufgeklärt-helle Herrscher eingesetzt, lassen sich durch ihre räumliche Nähe lediglich zwei Personen klar zuordnen. Sollte es sich um eine bewusste Inszenierung des Fotografen handeln, wäre dessen äußerst kritische Einordnung des überwiegenden Teils der Dargestellten zu konstatieren.

Ein durchaus auffälliges Detail legt aber doch nahe, dass es sich um eine Gruppe von Re­gen­t*in­nen handelt. Die zweite Frau von links macht eine Geste, die sich als napoleonisch beschreiben ließe: Ihre rechte Hand liegt auf ihrem Bauch, nur der Daumen ist abgespreizt. Eine aufgesetzte Attitüde? Vielleicht.

Dass die Hand, wie sonst üblich, nicht im grau karierten Jackett verschwindet und damit das Bild prägt, dürfte aber nicht nur am Damenschnitt des Blazers liegen, sondern Absicht sein: Keine andere Handbewegung auf dem Bild ist so klar dargestellt. Zwischen ihren Fingern hält die Frau wohl die Zügel einer Gesichtsmaske, ein Anfang der 2020er Jahre in vielen gesellschaftlichen Schichten verbreitetes Accessoir. Es ist das einzige dieser Art auf dem Bild. Das könnte auf die Bür­ge­r*in­nen­nä­he der Person (oder aller Personen) hinweisen oder auf die besondere Bedeutung der Frau in Grau.

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