Bernhard Pötter über Kinder : Gott hat keine Kinder
Laut, gehetzt, chaotisch: Paris ist ein idealer Ort für Kinder. Aber wo haben sie sich versteckt?
Als ich ein Kind war, war die Metro ein magischer Ort. Dort gab es meterweise Filzstifte, Papierkleber im 36er-Pack und Gummibären in Zentnersäcken. Für die Metro brauchte man einen Passierschein wie für einen Tag im Osten. Und Kinder hatten dort nichts zu suchen. Auch die Pariser Métro ist ein magischer Ort. Es gibt Menschentrauben im Hunderterpack, überall Reklame und man braucht einen Passierschein. Und Kinder haben auch hier nichts zu suchen. Das bellt uns jedenfalls der Angestellte hinter seinem sicher nicht ohne Grund schusssicheren Glas in der Station „Nation“ entgegen: “La poussette est interdite!“ Kinderwagen verboten? Nur weil ich einen Bandscheibenvorfall riskiere, wenn ich Baby Stan in seiner Kinderwagenversion eines Geländewagens die endlosen Metrotreppen hoch- und runterschleppe, weil alle Aufzüge der Stadt im Eiffelturm verbaut sind? Und nur, weil wir vor lauter Verzweiflung den Koffer am Fuß der Treppe stehen lassen - und dann angebrüllt werden, gefälligst kein Gepäck unbeaufsichtigt zu lassen, es gebe schließlich jeden Tag Terrorwarnungen? Das wollen wir doch mal sehen! Wir sehen es dann. Als wir uns mit dem Kinderwagen und mit Anlauf in die überfüllte Metro quetschen. Kein guter Tag für die deutsch-französische Freundschaft. Und wir sehen noch etwas anderes in einer Woche Paris: Es gibt hier keine Kinder. „Das kann gar nicht sein“, sagt Anna, in unserer Familie zuständig für Frankosophie: „Die Franzosen lieben ihre Familien und haben sogar genug Kinder, um ihre Renten zu bezahlen.“ Als eines der wenigen Länder in Europa schaffen sie es, ihre Bevölkerungsstatistik ausgeglichen zu halten. Aber wirklich glauben kann ich es nicht, denn die Kinder sind entweder noch im Bauch der Mütter oder tragen „Notre Dame“-T-Shirts und sprechen amerikanisch. Ou sont les enfants? Eigentlich wäre das Kinderparis ein Kinderparadies. Die Metro ist so laut, dass es gar nicht auffällt, wenn man aus vollem Hals schreit. Hier ist wirklich Frankkreisch. Im Verkehr herrscht genau die Mischung aus aufgeklärtem Autosolutismus und fröhlicher Anarchie, die uns bei unseren enfants terribles begegnet. Es gibt immer nur Weißbrot. Zum Straßenkehren werden die Rinnsteine geflutet. Auf jedem Kirchendach strecken Monster uns die Zunge raus. Ideal für Kinder? Denkste. Wo sind sie? Weggeschlossen in Krippen und Kindergärten, Crèches und Écoles maternelles, für die es nicht nur einen Anspruch, sondern eine Schulpflicht ab drei Jahren gibt? Geparkt in den Parks, wo sie dann tatsächlich den Rasen nicht betreten? Stalin hat behauptet, in Deutschland würde es nie eine Revolution geben, weil die Revolutionäre beim Sturm auf die Festung der herrschenden Klasse das Schild „Rasen betreten verboten“ beachten würden. Und hier? Sind Revolutionen an der Tagesordnung. Trotzdem sind die Rasenflächen leer. Auch die Kinder sitzen im Jardin de Luxembourg auf den Stühlen! Als guter Nachbar muss ich mal sagen: Frankreich ist ein seltsames Land. Überall und omnipräsent wird zum Jahrestag dem Sieg der Alliierten und der Résistance über die Deutschen und ihre Kollaborateure gehuldigt - und gleichzeitig großflächig die Kosmetik der Firma “Vichy“ beworben. Würde jemand bei uns Sonnencreme der Marke „Braunau“ kaufen? Neidisch muss man aber auch anerkennen: Wir wären gern ein bisschen wie Frankreich. Wir hätten gern ihr staatlich subventioniertes Baguette oder eine Catherine Deneuve. Nicht umsonst schwärmen wir vom „Leben wie Gott in Frankreich“. Und das heißt: Auf den Boulevards flanieren, sich fein anziehen, Museen und Konzerte genießen, in Ruhe vom Feinsten essen und trinken, ein geruhsames Gespräch führen, lange schlafen und den Mademoiselles hinterherschauen. Wenn Gott also wirklich in Frankreich lebt, dann kann er stilvolles Leben und Familie deutlich besser vereinbaren als wir. Für IHN soll ja nichts unmöglich sein. Aber ich habe einen schlimmen Verdacht: Gott hat keine Kinder.
Fragen zu Baguette?kolumne@taz.deMi.: Barbara Bollwahn über ROTKÄPPCHEN