Berlins Bildungssenator Zöllner im Interview: "Eine Schulreform muss breite Akzeptanz finden"
Hauptschule abschaffen, Gymnasien stärken: Mit seinen Vorschlägen erfreut Bildungssenator Zöllner (SPD) vor allem die Gegner der Gemeinschaftsschule. Die will er zwar noch haben - aber eher für die weniger Schlauen.
taz: Herr Zöllner, vergangene Woche haben Sie Ihre Vorschläge für eine tief greifende Schulreform vorgestellt - und sich darin gegen die Idee einer gemeinsamen Schule für alle entschieden. Stattdessen wollen Sie die Gymnasien stärken. Finden Sie das eine mutige Vision?
Jürgen Zöllner: Sehr mutig. Denn wenn man eine gemeinsame Schule will, sollte man nicht der Versuchung erliegen, eine Gesamtstruktur zu präsentieren, die scheitern muss.
Die Gemeinschaftsschule ist zum Scheitern verurteilt?
Nein. Die Idee der Gemeinschaftsschule zeichnet eine Perspektive auf. Aber was nützt es, wenn ich sie von heute auf morgen einführe mit der Sicherheit, dass sie mit den nächsten Wahlen wieder zur Disposition stehen wird? Wenn ich ein so bedeutendes System wie die Schulstruktur umstelle, muss das breit akzeptiert werden, damit nicht nach der nächsten Wahl alles anders ist. Sonst handle ich verantwortungslos.
Das heißt: Weil eine SPD, die das Gymnasium abschafft, abgewählt würde und die CDU dann das täte, was Sie jetzt vorschlagen, schlagen Sie es gleich selbst vor?
JÜRGEN ZÖLLNER (SPD) ist seit 2006 Bildungssenator in Berlin. Zuvor war der 63-jährige Mediziner Wissenschaftsminister in Rheinland-Pfalz.
Grundschule: Wird in Berlin in der Regel von allen Schülern bis zur 6. Klasse besucht. Besonders gute SchülerInnen können bereits nach der 4. Klasse auf das -> grundständige Gymnasium wechseln.
Hauptschule: Bietet die Klassen 7 bis 10 und den einfachen oder erweiterten Hauptschulabschluss. Gute SchülerInnen können auch an den Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss (MSA, siehe Realschule) teilnehmen.
Realschule: Bietet auch die Klassen 7 bis 10, endet aber mit dem Mittleren Schulabschluss (MSA).
Gymnasium: Bietet die Klassen 7 bis 12 und endet mit dem Abitur, das für ein Hochschulstudium qualifizieren soll.
Grundständiges Gymnasium: Startet bereits mit der 5. Klasse, häufig mit speziellen und intensiven Sprachangeboten oder Schnellläuferklassen, in denen das Abitur nach elf Schuljahren erreicht werden kann.
Gesamtschule: Offen für alle Schüler ab der 6. Klasse. Bietet neben Hauptschulabschluss und MSA teilweise auch die gymnasiale Oberstufe. In der Praxis wird sie nur von wenigen Schülern mit Gymnasialempfehlung besucht.
Gemeinschaftsschule: Modellversuch seit Beginn dieses Schuljahres. Hier sollen im Idealfall alle Schüler von der 1. bis zur 10. Klasse gemeinsam unterrichtet werden. An einigen Schulen oder an kooperierenden Gymnasien kann nach zwei weiteren Jahren auch das Abitur abgelegt werden.
Regionalschule: Zu dieser will Bildungssenator Jürgen Zöllner ab 2010 alle Haupt- und Realschulen zusammenlegen. Sie sollen die Klassen 7 bis 10 unterrichten.
Grundständige Regionalschule: Ist in Zöllners Konzept für eine künftige Schulstruktur eine neue Bezeichnung für die -> Gemeinschaftsschule, sofern diese auch die Grundschule umfasst.
Nein. Das heißt es überhaupt nicht. Ein völlig neues System zu erfinden mag zwar intellektuell anspruchsvoll sein und Spaß machen, aber der entscheidende Punkt ist die Akzeptanz der Eltern und Schüler. Denn zum Lernen kann man nicht gezwungen werden.
Aber selbst wenn Ihre Regionalschule die Kinder besser als die bisherigen Schulformen fördern könnte - es ist doch jetzt schon vorprogrammiert, dass die Eltern in der Mehrzahl zum Gymnasium drängen werden, solange es weiter existiert.
Auch die Gymnasien werden sich weiterentwickeln müssen. Dabei werden wir auch darüber reden müssen, wie der Zugang zum Gymnasium künftig geregelt wird. Ich kann mir etwa vorstellen, dass wir auf die Oberschulempfehlungen, die die Grundschule derzeit für abgehende Schüler ausspricht, völlig verzichten. Das könnte ziemlich spannend werden.
Was wären denn die Alternativen?
Dass die Gymnasien selbst prüfen, welche Schüler sie aufnehmen. Das würde selbstverständlich auch die Konsequenz nach sich ziehen, dass kein Schüler mehr abgeschult …
… also vom Gymnasium auf eine andere Schulform quasi zwangsversetzt …
… werden dürfte.
Sie wollen auch die sogenannten grundständigen Gymnasien stärken, die nicht nach der 6-jährigen Grundschule, sondern schon nach der 4. Klasse beginnen.
Stärken, indem sie sich weiterentwickeln. Denn ich finde, dass wir ein solches Angebot brauchen, gerade wenn wir so etwas wie die kreativste Metropole Europas sein wollen. Die Schnellläuferklassen etwa, in denen das Abitur bereits in 11 Schuljahren erreicht werden kann, kann man nicht erst ab Klassenstufe 7 beginnen lassen.
Die Kreativsten und Klügsten sollen also lieber kürzer gemeinsam mit anderen lernen?
Die, die es wollen und können, ja! Gerade weil ich die 6-jährige Grundschule für einen Segen halte.
Das ist die Wiedereinführung des dreigliedrigen Schulsystems durch die Hintertür!
Wie kommen Sie denn darauf?
Ganz klar: die neue Regionalschule, die normalen Gymnasien und die grundständigen für die ganz Schlauen.
Nein, das trifft es nicht. Aber wenn Sie es schon so sehen wollen, wäre mein Vorschlag ein viergliedriges System, weil ich ja auch die grundständige Regionalschule haben will. Also die lupenreine Gemeinschaftsschule.
Die dann für die übrig bleibt, die es auf kein Gymnasium schaffen. Wo bleibt denn da die Idee gleicher Chancen für alle?
Ich bin davon überzeugt, dass die Regionalschule auch für Gymnasiasten attraktiv sein kann, zum Beispiel für diejenigen, die nicht in 12 Jahren Abitur machen wollen. Sicher habe ich die Vision, das Spannungsfeld von Bildung und sozialer Lage, kombiniert mit Migrationshintergrund, aufzubrechen. Aber diese Problematik wird man nie vollständig beseitigen können.
Warum nicht?
Ich kann als Staat nur über Institutionen wirken. Bildung wird aber auch von ganz persönlichen Kommunikationsstrukturen und Lebensverhältnissen bestimmt - in die ich mich nicht einmischen möchte. Es muss auch Privatheit geben. Und das heißt, dass wir nie hundertprozentige Chancengleichheit haben werden.
Wenn das alte System systematisch Bildungsverlierer produziert, ist es doch Ihre Aufgabe, das zu ändern?
Für mehr Chancengerechtigkeit brauchen wir tief greifende Veränderungen, die aber aus dem Bestehenden heraus wachsen müssen, damit sie akzeptiert werden. Und sie müssen kompatibel sein mit den Entwicklungen in anderen Bundesländern. Ich finde meinen Vorschlag deshalb gut, weil er eine Entwicklungsperspektive in eine neue Dimension öffnet. Denn wenn das, was ich dort umrissen habe, Wirklichkeit wird, ist die Gemeinschaftsschule ein festes Element des Berliner Schulsystems, das von einem breiten Konsens getragen wird. Und wer hätte das noch vor einem Jahr gedacht? Das ist ein Erfolg!
Brauchen Sie als Senator in Berlin eigentlich mehr Geduld für solche Erfolge als zuvor als Minister in Rheinland-Pfalz?
"Mehr Geduld" würde ich nicht sagen. Aber der Prozess der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ist hier anders als in Rheinland-Pfalz. Hier gehört offenbar eine nach außen sichtbarere Auseinandersetzung dazu. Das verändert das eigene Verhalten.
Inwiefern?
Ich habe früher versucht, Konflikte so lange wie möglich zu vermeiden. Und bin damit nicht schlecht gefahren. Hier aber muss man Unterschiede früher nach außen deutlich machen. Sonst machen das andere und man wird getrieben. Das ist hinderlich.
Sie wissen, wie man in Berlin zum Getriebenen wird: Mit der Super-Uni hatten Sie eine gute Idee - aber solange niemand mitspielt, nützen die besten Ideen nichts.
Der Begriff Super-Uni ist nicht von mir. Er ist auch nachweisbar falsch, weil ich eine Stiftung vorgeschlagen habe. Es ist aber richtig: Ich habe mir das in Berlin einfacher vorgestellt. Aber immerhin kann ich jetzt stolz auf meine Lernfähigkeit sein.
Ihre realistische Vision für Berlin heißt also: Kompromiss.
Lernfähigkeit heißt doch nicht Kompromiss! Wenn ich in einer Diskussion offen bin, komme ich nicht so heraus, wie ich hineingegangen bin. Das muss man sich doch nicht vorwerfen lassen.
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