Berliner ohne Papiere: Ein DIN-A4-Blatt als Ausweis
Eine bosnisch-montenegrinische Familie lebt seit 17 Jahren in Berlin. Außer der Mutter besitzt keiner einen Pass, weil keine Botschaft für sie zuständig ist.
Rade Matovic jongliert sein Auto sicher durch schmale Lichtenberger Nebenstraßen. "Das ist eine Schrottkarre für 300 Euro", sagt er. Der 48-Jährige kennt hier jeden Schleichweg und jede Abkürzung. Seit 17 Jahren wohnt der Montenegriner in Berlin. An diesem Morgen fährt er seine Tochter von Hohenschönhausen nach Pankow zur Schule. Die BVG streikt, der Vater ist arbeitslos, und für die Abiturientin ist das der schnellste Schulweg.
Eine echte Hürde war es für den Montenegriner, der 1992 mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Sarajevo nach Berlin geflohen war, das Auto anzumelden. "Als Ausweis habe ich nur das hier", sagt er und zeigt auf ein DIN-A4-Blatt. Darauf ist sein Passbild, ein Amtsstempel und der Eintrag, dass ihm der Aufenthalt in Deutschland gestattet ist. Matovic ist staatenlos. "Die Kfz-Zulassungsstelle musste bei der Ausländerbehörde anrufen, ob das wirklich ein Ausweis ist", sagt er im perfekten Deutsch.
Doch nicht jeder sei so kooperativ. Vor allem Arbeitgeber sind es nicht. "Ich wollte beim Winterdienst arbeiten. Sie wollten mich nehmen. Aber als sie gesehen haben, dass ich keinen Ausweis habe, wollten sie nicht mehr", sagt Matovic. Der studierte Schiffsingenieur ist bereit, jede Arbeit in Deutschland anzunehmen. Doch außer 1-Euro-Jobs und einem Ehrenamt als Handballtrainer hat er bisher keine gefunden.
Alle drei Monate muss Matovic und seine Familie das A4-Blatt bei der Ausländerbehörde verlängern. Die Abschiebung braucht die Familie nicht zu fürchten. Er und seine Frau genießen als traumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland Abschiebeschutz. "Aber ohne Pass, das ist kein Leben" sagt er. "Meine Kinder haben keine Zukunft in diesem Land."
Die 17-jährige Tanja, die hinter ihm im Auto sitzt, möchte Lehrerin werden. Englischlehrerin. Ein Beruf, für den Berlin händeringend Bewerber sucht. Aber ohne deutschen Pass kann sie nicht auf Dauer in den Schuldienst eingestellt werden. Und bevor das Mädchen, das mit Vater und Geschwistern Deutsch spricht, deutsche Staatsbürgerin werden kann, muss sie mehrere Jahre lang einen Pass haben. Einen bosnischen, serbischen oder einen Staatenlosen-Pass. "Ich will trotzdem auf Lehramt studieren", sagt Tanja. "Lehrerin ist mein Traumberuf."
Ihr 20-jähriger Bruder sitzt seit dem Abitur zu Hause rum. Ohne Pass hat er bisher weder Studienplatz noch Job bekommen. Nicht einmal den Führerschein darf er machen. Einzige Passbesitzerin in der sechsköpfigen Familie ist die Mutter Samira. Sie ist Bosnierin.
Vater Mate Matovic, der Montenegriner, hat vor seiner Flucht den Wehrdienst in der serbischen Armee verweigert. Deshalb wurde er ein Jahr nach seiner Flucht aus dem Register der Staatsangehörigkeit des damaligen Serbien-Montenegro ausgetragen. Seitdem sind er und die Kinder staatenlos.
Der 48-Jährige weiß, dass man in Deutschland für alles eine Bescheinigung braucht. Deshalb hat er sich die Ausbürgerung von seinem Geburtsort in Montenegro bescheinigen lassen. Doch das Papier genügte der Ausländerbehörde nicht, um der Familie einen Fremdenpass auszustellen. Matovic gab nicht auf. Wie es die Ausländerbehörde von ihm forderte, beantragte er Pässe. Er tat dies auf der bosnischen Botschaft. Er tat es auf der serbischen Botschaft, die bis zur Unabhängigkeit des Kosovo die Interessen Montenegros in Deutschland vertreten hat. Weil Matovic die deutsche Bürokratie kennt, nahm er sich dreimal Zeugen mit, die seine Bemühungen eidesstattlich versicherten.
"Ein Zeuge war sogar ein Politiker der damaligen Linkspartei und heutigen Linken", sagt er. Gemeint ist der Marzahner Fraktionschef Klaus-Jürgen-Dahler, der das gegenüber der taz auch bestätigt. "Matovic wurde auf der bosnischen Botschaft höflich abgewiesen. Es hieß, die beiden jüngeren in Deutschland geborenen Kinder könnten eventuell als Kinder einer Bosnierin bosnische Pässe bekommen. Dazu müssten sie aber nach Sarajevo reisen." Auf der serbischen Botschaft sei der Mann hingegen als Vaterlandsverräter beschimpft und hinausgeworfen worden, berichtet Dahler.
Fein säuberlich abgeheftet
Ausbürgerungsbescheid und eidesstattliche Versicherungen der Zeugen hat Matovic fein säuberlich abgeheftet an die Ausländerbehörde geschickt. Das reichte nicht, wie die Ausländerbehörde dem Flüchtlingsrat mitteilte, der sich inzwischen um den Fall kümmert. Die Familie sei bis heute nicht der Aufforderung nachgekommen, "Nationalpässe zu beantragen oder Nachweise über die Beantragung vorzulegen", heißt es. Gegenüber der taz möchte sich Behördensprecherin Nicola Rothermel nicht äußern, "weil wir generell nicht zu Einzelfällen Stellung nehmen", sagt sie.
Für den Linken-Politiker Dahler hat die Ausländerbehörde hier nicht korrekt gehandelt. "Sie muss in diesem Fall Staatenlosen-Pässe ausstellen." Seit Wochen verhandelt Dahler zudem mit der Ausländerbehörde über eine andere Möglichkeit: Matovic und seine Kinder sollen zunächst provisorische Reisedokumente erhalten, damit sie in Sarajevo ihre Staatsangehörigkeit klären können. Denn mit einem A4-Blatt als Ausweis können sie nirgendwo hinreisen. "Doch die Behörde bewegt sich keinen Schritt von der Stelle."
Laut Dahler wäre die Familie Matovic auch bereit gewesen, nach Montenegro zu reisen, um Pässe zu beantragen - "obwohl das wegen der Ausbürgerung keinen Sinn macht". Doch das ginge nun nicht mehr. Denn seit Deutschland das Kosovo anerkannt hat, haben Serbien und Montenegro alle Beziehungen ausgesetzt und gestatten keine Einreise mit in Deutschland ausgestellten Pässen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört