Berliner Wagenburg bedroht: "Schwarzer Kanal" funkt SOS
Der Bauwagenplatz "Schwarzer Kanal" existiert seit 19 Jahren mitten in Berlin. Jetzt will der Eigentümer des Grundstücks an der Spree dort Häuser bauen.
Von weitem sieht es aus, als habe das Kind eines Riesen auf seiner Spielwiese bunte Bauklötze verstreut. Erst wer den rostigen Schlagbaum abseits der Michaelkirchstraße in Mitte hinter sich lässt, kann erkennen, was sich auf dem weitläufigen Areal verbirgt: Die Wagenburg "Schwarzer Kanal" ist mit 19 Jahren eine der ältesten Berlins. Über 30 Bauwagen, Hütten und Kleinbusse ducken sich im Schatten einer alten Textilfabrik zwischen Bäumen und hohem Gras. Das satte Grün des Geländes am Spreeufer wechselt sich ab mit den farbenfrohen Unterkünften seiner Bewohner. Viele der einst rollenden Wohnungen sind vom Wildwuchs überwuchert, manche haben über die Jahre Vordächer und andere provisorische Anbauten bekommen. Der Ort wirkt verwunschen, wie aus der Zeit gefallen. Aber die Uhr tickt. Geht es nach dem Willen des Grundstückseigentümers, dem Essener Baukonzern Hochtief, wird der "Schwarze Kanal" Ende des Jahres Geschichte sein.
Der Wagenplatz ist Heimat für knapp 25 Frauen und Männer. Hier wohnen Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle im Alter zwischen 25 und 40 Jahren. Es gibt viele Handwerker, einige Bewohner studieren. Sie alle können mit den Geschlechter- und Rollenbildern der Mehrheitsgesellschaft ebenso wenig anfangen wie mit der kapitalistischen Verwertungslogik. Deshalb sind sie hier. Und deshalb bezeichnen sie ihren Wagenplatz als queer.
Für ein selbstbestimmtes Leben, wie sie es nennen, nehmen die Bewohner viele Abstriche in Kauf. Vor allem beim Komfort. Gut, Miete zahlt hier keiner, aber: Strom gibt es nicht, geheizt wird mit Brennholz, gekocht mit Gas in einer Gemeinschaftsküche. Fließend Wasser gibt es, aber nur in einem Dusch- und Toilettencontainer im hintersten Winkel des Grundstücks. Dorthin ist es, besonders im eisigen Berliner Winter, ein weiter Weg. Auch die meisten Behausungen sind undicht und schlecht isoliert, ständig muss an ihnen herumgebastelt werden.
"Dafür ist dieses Leben viel näher dran an meiner Vorstellung vom echten Leben", sagt Kai Phillips, 38. Die Zimmerin mit der blonden Stoppelfrisur und den durchtrainierten Armen lebt seit sechs Jahren im Schwarzen Kanal. Ihr ganzer Stolz ist ihr blauer Bauwagen. 13 Quadratmeter Wohnraum, rundherum lassen Fenster viel Licht hinein. Eine kleine Terrasse lädt zum Verweilen ein, überall stehen Blumenkästen. Kai schätzt den Wagenplatz als Stück Natur in der grauen Großstadt. "Wir leben hier mitten im Grünen. Wir haben keinerlei Flächen versiegelt. Und durch den fehlenden Strom geht man viel bewusster mit dem Thema Energieversorgung um." Zurzeit wird auf dem Gelände viel Solartechnik erprobt, zukünftig soll auch die Windenergie besser genutzt werden.
Phillips versteht den Wagenplatz nicht nur als persönliches Wohnidyll. Sie sieht den Schwarzen Kanal als offenen politischen und kulturellen Ort an, an dem es niemanden interessiert, "ob Du schlank, schön und reich bist". Das ist eine der Kernbotschaften, die der Wagenplatz versenden will. Vor allem auf Veranstaltungen.
Zum Beispiel auf dem Musikfestival "Up your Ears", das an einem Wochenende im September gut 1.000 Besucher auf das Gelände am Spreeufer zog. Drei Tage lang wurde zu Live-Musik, von Punkrock bis zu Elektro-Beats, getanzt und getrunken. Auch im Regen. Überregional bekannt sind die regelmäßigen Variete- und Filmfestivals, die im "Schwarzen Kanal" stattfinden. Außerdem bietet die Wagenburg alle zwei Wochen eine "Volxküche", bei der für Unterstützer und Gäste vegan gekocht wird. Und jeden Mittwoch schrauben Bewohner, Freunde und Fremde an Fahrrädern, ein Bauwagen wurde komplett zur Werkstatt umgebaut. Jeden zweiten Sonntag bekommt das Reparatur-Event eine politische Note. Dann ist "Bike Aid". Bei der Aktion werden alte Tretmühlen wieder fit gemacht - speziell für die Bewohner des nördlich von Berlin gelegenen Asylbewerberheims Henningsdorf. Denn wie so viele dieser Unterkünfte liegt das Heim in einem Gewerbegebiet am Stadtrand. Mit den Fahrrädern vom "Schwarzen Kanal" sollen die Bewohner ein Stück Bewegungsfreiheit hinzugewinnen.
Auf einem Banner zur Michaelkirchstraße hin wehen die Slogans "Kein Mensch ist illegal" und "Abschiebung stoppen" im Herbstwind. Die Parolen haben in diesen Tagen eine eigentümliche Doppeldeutigkeit bekommen. Denn nicht nur Flüchtlinge aus Hennigsdorf sind von Abschiebung bedroht. Auch der "Schwarze Kanal" muss bis zum 31. Dezember dieses Jahres zwangsweise umziehen. Sonst wird er weggeräumt. Raus aus der Mitte, rein ins ganz weit draußen. Nach Marzahn zum Beispiel.
Was für die Bewohner des Geländes wie ein schlechter Witz klingt, ist für den Essener Baukonzern Hochtief ein faires Angebot. Ein Geschenk sogar, eine noble Geste. "Wir müssten das ja gar nicht machen. Es besteht überhaupt kein Zwang irgendetwas anzubieten", sagt Christian Gerhardus, Pressesprecher von Hochtief. Insgesamt drei Ersatzgrundstücke, neben dem Gelände in Marzahn noch eines in Ahrensfelde und eines in Mahlsdorf, habe man den Wagenburgbewohnern vorgeschlagen. Aber die würden nur stur auf einen Wagenplatz im Herzen der Hauptstadt pochen. "So ein Grundstück haben wir aber nun einmal nicht", sagt Gerhardus.
Hochtief will ab 2010 an der Köpenicker Straße die neue Zentrale für seine Berliner Tochtergesellschaften hochziehen. Über 700 Mitarbeiter soll das Bürogebäude künftig beherbergen. Dafür müssen die Bewohner des "Schwarzen Kanals" weichen, auf ihrem Wagenplatz sollen die Bauzeit über Kräne, Zementmischer und Baucontainer stehen. Danach soll auf dem Grundstück eine Wohnanlage gebaut werden.
Ganz freiwillig sei der anstehende Baubeginn nicht, räumt Gerhardus ein. Hochtief hat das Gelände vor gut sieben Jahren von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben erworben. Die Vertragsbedingungen sehen eine Bebauung bis 2010 vor, sonst droht dem Unternehmen eine hohe Geldstrafe. "Wir sind gezwungen zu bauen", sagt Gerhardus.
"Wir sind alle sehr, sehr wütend hier", sagt Phillips leise. Ihre blauen Augen funkeln. Sie sitzt an einem alten Biertisch, der vom Wetter grau gewaschen wurde. "Wir werden hier nicht weggehen. Nicht freiwillig." Eine Grundstück am Stadtrand sei für die Wagenburg keine Alternative. Es gehe auch um die Sichtbarkeit des Projekts, um Symbolik. Als unkommerzielles Kulturprojekt wolle der Schwarze Kanal seine Zeichen setzen gegen eine entfesselte Gentrifizierung. Hier im Herzen Berlins. Außerdem sei man es leid andauernd umzuziehen. Erst 2003 bezog der "Schwarze Kanal" seinem heutigen Standort, früher residierte er an der benachbarten Schillingsbrücke. Auf dem Grundstück, das auch Hochtief gehört, steht heute die Zentrale der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.
Weil die Bewohner der Wagenburg inzwischen die Liebe zu einer festen Bleibe entdeckt haben, machen sie jetzt mobil. Vom 21. bis 25. Oktober soll in einer Aktionswoche öffentlichkeitswirksam für einen Verbleib des "Schwarzen Kanals" demonstriert werden. Geplant sind eine Fahrradrallye, Workshops zur Stadtentwicklung, tägliche "Volxküchen" und Brunches auf dem Gelände - und natürlich eine große Protestkundgebung.
Ganz so trübe wie das träge vorbei fließende Spreewasser, nachdem der "Schwarze Kanal" vermutlich benannt ist, ist die Aussicht auf ein Überleben der Wagenburg nicht. Noch wird verhandelt, der nächste Runde Tisch zwischen Hochtief, den Bewohnern und Bezirksvertretern ist nach Angaben des Baukonzerns für die nächsten Wochen anberaumt.
Die Politik ist besonders an einer friedlichen Lösung interessiert. Lars Neuhaus, Fraktionsvorsitzender der SPD im Bezirk Mitte, sicherte den Bewohnern bereits seine Unterstützung zu. Der Politiker will "alles daran setzen, um eine gewaltsame Lösung zu verhindern." Zugleich sagt aber auch er, dass es in Berlins Mitte immer weniger geeignete Grundstücke für Projekte wie den "Schwarzen Kanal" gäbe. Leider, sagt er.
Kai Phillips will für ihre Version des guten Lebens kämpfen. Mit Ende Dreißig ist sie eine der ältesten Bewohnerinnen der Wagenburg. Der Ort ist ihr ans Herz gewachsen. Besonders hat ihr es der Gemüsegarten angetan. Sie lächelt, als sie einige seiner stummen Bewohner vorstellt, die "drei Schwestern". Um eine Maispflanze rankt sich eine Stangenbohne, darunter am Boden wächst ein leuchtender oranger Kürbis. Diese Art der Mischkultur stamme ursprünglich von den Mayas. "Uns hat ein Besucher aus Spanien die Idee mitgebracht", sagt Kai. In einem Bürokomplex wird solch Wildwuchs wohl keinen Platz mehr finden.
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