Berliner Tagebuch: Neue Taten
■ Berlin vor der Befreiung: 11. April 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Am Abend rüstet unsere Clique zu neuen Taten. Projekt und Angriffsziel: unser alter Wasserturm. Ehemals diente er dem Bezirk als Wasserreservoir. Später machten ihn die Nazis zum Ehrenmal. Mit Hakenkreuz, Adler und Fahnen, mit rotbeschleiften Kränzen und hochtrabenden Inschriften. Für die Gefallenen der Bewegung. Die Nazikämpfer den Nazikämpfern!
Englische Bomben sind auf den Turm gefallen. Haben Menschen erschlagen und Zerstörungen angerichtet. Aber die Fahnen blieben. Schon lange stachen uns diese Fahnen ins Auge. Todesstrafe steht auf Frevel gegen nazistische Hoheitssymbole. Grund genug, mit äußerster Vorsicht zu Werke zu gehen. „Am besten, wir warten auf Alarm“, schlägt Fabian vor. „Wenn die Flieger brummen, sitzt alles im Keller.“
Der Alarm kommt pünktlich wie jede Nacht. Draußen ist es finster. So finster, daß man die Hand nicht vor Augen sieht. Unsere Schritte hallen über den Asphalt. Tatsächlich, nirgends ein Mensch auf der Straße. Nur hin und wieder hört man ein verstohlenes Husten hinter einer Kellertür, blitzt für Sekunden das Glutpünktchen einer Zigarette auf.
Wie Katzen überklettern wir den hohen Drahtzaun, der in breitem Abstand den Wasserturm umgibt. Jetzt stehen wir unter der hohen Kuppel des Wasserturms. „Scheren raus!“ kommandiert Frank. „In fünf Minuten müssen wir fertig sein.“ – „Ich komme nicht ran“, tuschelt Heike verzagt. – „Ich auch nicht.“ Wie Federbälle hüpfen wir auf der Stelle. – „Hat dich der Veitstanz gepackt?“ Neben mir steht Wald. „Komm auf meine Schultern, rasch.“ Er faltet die Hände zum Steigbügel.
Die Schere quietscht. Draußen summen die Flieger. Jetzt fällt die erste Fahne. Jetzt die zweite. Am anderen Ende der Halle arbeitet Heike, die Beine wie eine Reiterin um Fabians Hals geschlungen. Dritte Fahne – vierte Fahne – fünfte Fahne. Nur noch zwei Fahnen bleiben übrig.
Ruth-Andreas Friedrich
Aus: „Der Schattenmann“. Suhrkamp Verlag 1984 (Tagebuchaufzeichnungen von 1938 bis 1945).
Ruth-Andreas Friedrich (1901–1977), Journalistin, Mitglied einer Widerstandsgruppe, die untergetauchte Juden versteckte.
Recherche: Jürgen Karwelat
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen