Berliner Szenen: Die Bergung
Keen Überblick
Am oberen Ende des Kurfürstendamms ist eine Seitenstraße mit Sicherheitsband abgesperrt. Feuerwehr und Polizei parken quer vor einem Haus und lassen niemanden durch. Eine Gruppe aus Anwohnern und Schaulustigen sammelt sich hinter dem Absperrband.
Ein Mann drängt sich nach vorne und bittet durchgelassen zu werden, er wohne in dem Haus, er sei in Sorge. Er zeigt seinen Personalausweis, um seine Aussage zu verifizieren, und fragt noch einmal, ob er bitte durchgehen dürfe. Ein Polizist blockt ihn ab: „Wir müssen hier erst mal ’ne Leiche bergen.“
„Was ist passiert, wer ist gestorben?“, fragt der Mann eine junge Polizistin mit brünettem Pferdeschwanz panisch. Die schüttelt den Kopf. „Ich habe keine Befugnis, Ihnen Auskünfte zu geben.“ Nach einer kurzen Zeit, in der sie den Mann mustert, beugt sie sich noch einmal zu ihm und flüstert: „Weiblich, zweiter Stock.“ Der Mann atmet sichtlich erleichtert auf und sagt dann dankbar: „Da kenne ich niemanden.“ – „Genau das war wohl das Problem“, sagt die Polizistin. „Niemand hat die Frau vermisst oder sich über den Geruch gewundert.“
Der Mann guckt betreten zur Seite. Dann sagt er zu der Frau neben ihm: „Haben Sie das gehört, Frau Nibusch? Kennen Sie eine Frau im zweiten Stock?“ Die Angesprochene schüttelt den Kopf. „Im zweeten ziehen die Leute ja alle paar Monate ein und aus, da hab ick ooch keen Überblick mehr.“
Frau Nibusch beugt sich zu der Polizistin: „Aber gestunken hat’s schon lang, ick dacht ja imma, da liegt ’ne tote Katze im Keller.“ Im selben Augenblick treten zwei Feuerwehrmänner mit sechs blauen Müllsäcken aus dem Haus. Einer der beiden meldet: „Entwarnung: Besagte Person im zweiten OG links verreist, Verwesungsgeruch stammt von monatelang liegen gebliebenem Messiemüll.“ Eva-Lena Lörzer
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