Berliner Szenen: Der letzte Seehund
Auf dem Rixdorfer Weihnachtsmarkt. Ein Ferkel liegt rum, ein Esel will kein Selfie und in der U-Bahn wird wild gemischt.
A uf dem Weg zum Rixdorfer Weihnachtsmarkt müssen wir an der Fleischerei vorbei, wo wir früher immer Blutwurst gekauft haben. Vor dem Laden ist ein Stand aufgebaut, ein gebratenes ganzes Ferkel liegt da, die Beine gespreizt und einen Pflock im Arsch. „Eeerbsensuppe“, ruft der Fleischer.
Der Weihnachtsmarkt ist schön wie immer, es ist nur mindestens 10 Grad zu warm. „Ich halt’s nicht aus! Kannst du auch mal was Positives sagen?“, sagt eine Frau zu ihrem Mann, und S. und ich stellen uns am Crêpesstand an. Das geht dann eine Weile so: Crêpe, fünf Meter weiter Glühwein mit Schuss, fünf Meter weiter Maronen. Als wir den Glühwein trinken, läuft ein Mann an uns vorbei und ruft zu seinem Kumpel: „Woll’n wir uns so berlinmäßig an die Mülltonnen stellen?“
Jemand mit blinkender Nase isst eine Wurst. Ein Pärchen läuft neben uns her, die Frau hält eine Tüte gebrannte Mandeln in der Hand, und ihr Freund sagt: „Pack die weg, sonst krieg ich noch ’n Zuckerschock.“ Vor der Schmiede stehen drei puschelige Esel. Ein Mann versucht, ein Selfie mit einem der Esel zu machen, aber der Esel kooperiert nicht.
Als wir schon auf dem Rückweg sind, ruft irgendwo eine Frau: „Den letzten Seehund heute Abend!“, und ich gehe auf ihrem Schild gucken, was ein Seehund ist; es ist Weißwein mit Rum, wie eklig. Als wir wieder am Ferkel vorbeikommen, sieht es schon etwas eingefallener aus als vorher.
In der U-Bahn Richtung nach Hause belegen sechs heftig geschminkte Mädchen zwei Vierersitze, sie hören über Handylautsprecher „Sweet dreams are made of this“ und mischen in Plastikbechern Wodka Gorbatschow mit einem Energydrink aus einer 1,5-Liter-Flasche. Und dann singen sie plötzlich, um 21.12 Uhr: „Happy birthday liebe Tugce, happy birthday to you.“ Dann schreit eine von ihnen: „Wochenendää! Zeit zum Fickään!“
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