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Berliner SzeneProfessionell feist

René Hamann
Kolumne
von René Hamann

Da stehen Kabeljungs auf dem Flur. Mit starren Gesichtern und Kassenbrille. Wollen wir sie reinlassen? Besser wäre: nicht.

Pramspotting. Hier nicht wirklich in Berlin. Bild: dpa

D ie Kabeljungs begehren Einlass. Zwei junge Männer, Mitte, Ende zwanzig, mit starren Gesichtern, wie aus der Provinz oder einer anderen Zeit versetzt. Ein Achtziger-Nerd, Kassenbrille, geriert sich als Chef des Duos. Der subalterne Kollege mit hellblonden, halblangen Haaren unter Pudelmütze, frühe Neunziger, erzählt ungefragt, dass der Chef in acht Tagen, dann ist ausgezählt, Vater wird. Sie stehen in meinem Wohn- und Arbeitszimmer, wirken professionell feist, wie Bahnkontrolleure oder Politessen, sonst könnten sie diese Schwellen nicht überschreiten, die Schwellen ins Private.

Und jetzt haben sie etwas in meine Kabelbuchse gesteckt, messen Daten, die zwischen 58 und 61 liegen, alles ist optimiert, jetzt könnte das Kabelfernsehen losgehen, allerdings habe ich gar keinen Fernseher. Noch mehr Kinder, denke ich, während der Chef die Zahlen in eine Liste einträgt, ich weiß von mindestens noch zwei, nein, eigentlich drei anstehenden Geburten dieses Jahr.

Und täglich kann ich eine Partie Pramspotting, also Kinderwagen, zählen, spielen. Dabei wohne ich nicht einmal mehr in Prenzlauer Berg. In der Nacht zuvor haben wir zwei Polizisten beim Abtransport einer Leiche beobachtet, wir kamen gerade vom Tagesabschlussbier.

Und ich dachte noch, dass man das so selten sieht, dass in dieser Stadt auch Menschen sterben – dass es auch den Tod gibt. Irgendwie muss sich das ausgleichen, die Geburtenrate durch eine angemessene Sterbensrate, und überhaupt die Bevölkerungsexplosion, irgendwie hat sich die Thematik merkwürdig verschoben.

Die Kabeljungs verabschieden sich. Ich weiß nicht, warum ich sie überhaupt hereingelassen habe, für einen oder zwei Augenblicke fühlt sich das nicht gut an, eine Grenze wurde überschritten, Betreten der Wohnung als übergriffige Handlung. Und am Ende wollten sie auch nur wieder was verkaufen.

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René Hamann
Redakteur Die Wahrheit
schreibt für die taz gern über Sport, Theater, Musik, Alltag, manchmal auch Politik, oft auch Literatur, und schreibt letzteres auch gern einmal selbst.
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