Berliner Stimmen zu Bildungsstreik: "Zu viel in zu kurzer Zeit gefordert"
Seit einer Woche sind in Berlin und Potsdam Hörsäle besetzt - es ist die Fortsetzung des Bildungsstreiks im Sommer. Für Dienstag ist eine große Demo geplant. Doch was sind die Ziele der Studierenden? Eine Umfrage.
Druck erzeugen
"Ich möchte zum einen versuchen, über den Bildungsstreik und die Besetzungen den Druck auf alle Verantwortlichen zu erhöhen - also auf die Hochschule und die Politik. Zum anderen ist es wichtig, dass ein Diskussionsprozess unter den Studierenden zustande kommt. An der FU ist das jetzt schon gelungen.
Als ich an die Uni kam, wurde ich sehr herzlich von einer Fachschaftsinitiative empfangen. Die übernehmen ganz banale Sachen, wie zum Beispiel eine Kennlernfahrt für Erstsemester. Bei den Diskussionen wurde mir klar, wie wichtig Reflexion an der Uni ist. Und dass das in Zeiten strafferer Stundenpläne oft zu kurz kommt."
Am Dienstag wollen Studierende bundesweit für eine bessere Ausstattung der Hochschulen demonstrieren. In Berlin werden sie ab 11 Uhr mit Schülern vom Roten Rathaus zum Oranienplatz in Kreuzberg ziehen. Studierende der HU treffen sich bereits um 10.30 Uhr am Bebelplatz. Außerdem rufen sie zum Besuch der öffentlichen Sitzung des Akademischen Senat um 9 Uhr auf (Unter den Linden 6, Senatssaal).
Aus Protest halten Studierende seit Mitte vergangener Woche drei große Hörsäle der Humboldt-Universität (HU), der Freien Universität (FU) und der Technischen Universität (TU) besetzt. Mehr als hundert Studenten blieben am Wochenende über Nacht in den Hochschulen, am Samstag feierten die HU-Besetzer eine Party im Hörsaal. Bislang tolerieren die Unis die Besetzungen. HU-Präsident Christoph Markschies unterstützt zudem die Kritik an der mangelhaften Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge.
Die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus veranstaltet heute eine Diskussion zum Thema "Demokratie an der Hochschule". Eingeladen sind unter anderem Silvia Gruß von der Landes-Asten-Konferenz und Prof. Jörg Steinbach, der Vizepräsident der TU. Beginn: 18 Uhr, Raum 376 im Abgeordnetenhaus in der Niederkirchnerstraße.
Weitere Termine unter www.bildungsstreik-berlin.de/events
Max Fuhlbrügge studiert Germanistik und Publizistik an der Freien Universität im 5. Semester
Selbstbestimmt lernen
"Ich will ein selbstbestimmtes und freies Studium für alle - auch wenn das sehr nach einer Utopie klingt. Dazu gehören natürlich viele kleine Punkte - zum Beispiel, dass die Vorgaben für ein Studium nicht starr sind, sondern jeder das auswählen kann, was seinen Bedürfnissen entspricht. Ein Studium soll schließlich den Horizont erweitern: Für mich hat Bildung etwas mit freiem Denken zu tun.
Damit das funktioniert, muss auch die Zusammenarbeit zwischen den Unis verbessert werden: Wenn ich mir den Schein einer anderen Uni nicht bei mir anrechnen lassen kann, läuft irgend etwas schief. Denn interessante Angebote gibt es ja - nur nicht immer an der eigenen Uni.
Bei unseren Protesten haben wir jetzt 95 Forderungen an die Tür des HU-Präsidenten genagelt. Die müssen wir vermutlich die nächsten Tage immer wieder anbringen. Wir werden uns aber sicher noch mehr ausdenken."
Henrike Buch studiert Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität im 5. Semester
Kritisches Denken fördern
"Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es nicht reicht, nur darauf zu hoffen, dass es besser wird. Kritische Bildung sollte wieder höher im Kurs stehen, es darf nicht nur um die ,Verwertbarkeit' von Wissen gehen.
Bei den Streiks im Sommer wurde mir zu viel von Humankapital und Finanzen geredet. Viele Studierende hatten nur Angst, dass sie als Bachelor nicht die gleichen Karrierechancen wie Diplomstudenten haben. Während des jetzigen Streiks versuche ich vor allem Leute für Aktionen zu gewinnen, die sich noch nicht beteiligen. Viele Studierende nehmen nicht teil, weil sie sich sagen: ,Ich muss einen Job finden, ich habe keine Zeit und kein Verständnis dafür, warum manche jahrelang unnützes Zeug studieren.' Wenn ich einen von ihnen umstimmen kann zu streiken, hat sich das Ganze schon gelohnt."
Christian Meyer, 25, ist Pressereferent im Asta der TU und studiert Soziologie im 11. Semester
Teilzeit ermöglichen
"Der für mich persönlich wichtigste Punkt im aktuellen Bildungsstreik ist die Umsetzung des Teilzeitstudiums. Die Workload-Berechnungen sind unrealistisch, der Studiengang sollte studierbarer werden. Es wird zu viel in zu kurzer Zeit gefordert.
Man erfährt das am eigenen Leib: Ich arbeite neben der Uni als Kellner und bin Vorstand des Vereins zum Erhalt des Studentischen Kulturzentrums in den Elfleinhöfen. Es wird nicht einberechnet, dass man auch noch ein Sozialleben hat, man will ja auch mal was Kulturelles machen. Dieses hochgepriesene studentische Leben existiert nicht mehr."
Robin Schlolaut, 23, studiert Informatik im 3. Semester an der Uni Potsdam
Ein Studium Generale
"Ich engagiere mich im Bildungsstreik, weil mir die Selbstbestimmung im Studium fehlt. Die Studienstruktur ist zu verschult. In dem Modul ,Allgemeine Berufsvorbereitung', das jeder belegen muss, werden fast nur BWL, VWL und Marketing-Seminare angeboten. Die Studierenden sollen möglichst attraktiv für die Wirtschaft gemacht werden. Ich habe das Gefühl, man will die Studierenden so bald wie möglich in den Arbeitsmarkt werfen, um sie als Steuerzahler zu gewinnen. Das ist mir zu viel Fremdbestimmung, so nach dem Prinzip: ,Wir wissen besser, was gut für euch ist'.
Ein Studium Generale wäre mein Wunsch. Man soll seinen Horizont über sein eigenes Fach hinaus erweitern können. Deshalb engagiere ich mich in der Fachschaft Germanistik, der Vollversammlungs-AG und der Anti-Sexismus AG."
Yvonne Henning, 22, studiert Germanistik im 5. Semester an der FU
Raum für Initiativen
"Ich mache beim Streik mit, weil die Bedingungen, unter denen wir hier studieren, schlecht sind. Der Zeitdruck, innerhalb von sieben Semestern das Bachelorstudium zu schaffen und nebenbei zu arbeiten, ist zu hoch. Aus diesem Grund habe ich schon einmal ein Studium abgebrochen. Außerdem wollen wir einen Raum für unsere Studieninitiative bekommen, den wir zu jeder Zeit für Treffen nutzen können.
Im Rahmen des Bildungsstreiks habe ich auch Kontakt zu Studentinnen in Italien. An der Uni Bologna haben sich letztes Jahr 20 Prozent weniger Studierende angemeldet, weil sie das Geld nicht haben, um das teure Studium zu finanzieren. Dagegen sind wir hier noch gut dran."
Viktoria Hofer, 28, studiert Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) im 1. Semester, Mitglied in der AG Presse
Gerechte Bildungschancen
"Ich war an einer Grundschule, an der es einen Migrantenanteil von über 50 Prozent gab, und hatte zwar das Glück, nach der vierten Klasse aufs Gymnasium wechseln zu können. Bei vielen Mitschülerinnen und Mitschülern habe ich aber gesehen, dass die Leute dort bleiben, wo sie herkommen. Ich bin für eine gerechte Bildungschancen und gegen solch eine soziale Selektion. Dafür gehe ich auf die Straße, demonstriere, protestiere, damit die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht wird.
Die aktuellen Zustände in der Schule sind katastrophal: In den Klassen sitzen 30 Schüler, der Lehrer steht nur vorne und macht Frontalunterricht. Ihm bleibt aber auch nichts anderes übrig."
Paula Rauch, 17, besucht die 12. Klasse des Französischen Gymnasiums in Tiergarten
Es wurde nichts umgesetzt
"An HU herrscht ein Demokratiemangel, die akademischen Gremien haben keine echte Entscheidungsmacht. Das Präsidium setzt alles alleine durch. Von unseren Forderungen aus dem Sommer ist nichts umgesetzt worden. Es wurde zwar ein Beschluss mit Zugeständnissen verabschiedet, aber der ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt wurde.
Ich fordere, dass die Anwesendheitslisten abgeschafft werden und es eine Überarbeitung der Bachelor-/Masterordnung gibt. Außerdem droht eine Kürzung des Bafög. Das Bafög muss aber sogar ausgebaut werden."
Gerrit Aust, 25, ist Asta-Referent an der HU und Bachelorstudent der Geschichte und Anglistik im siebten Semester
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