■ Berliner Signal: SPD verabschiedet sich von Kulturpolitik: Große Kapitulation
„Man muß sich auch davor hüten, die Bedeutung der Kunst für den Emanzipationskampf des Proletariats zu überschätzen.“ An diesen Satz Franz Mehrings aus seinem Aufsatz „Über Kunst und Proletariat“ (1896) muß sich die Berliner SPD erinnert haben, als sie mit der CDU handelseinig wurde. Die Koalitionsvereinbarung ist ein programmatischer Offenbarungseid. Die SPD duldet, daß die Kultur zum Anhängsel der Wissenschaft wird. Und kampflos gibt sie einen nicht ganz unwichtigen Posten gegen die Spar- und Kanzlerkultur in einer der kreativsten und widerborstigsten Kulturlandschaften Europas auf.
Nach dem Desaster der Kulturpolitik in Frankfurt nun Berlin. Das Berliner Programm träumt von einer „umfassenden Kultur des Zusammenlebens“ in einer „bunten und vielseitigen“ Freizeitgesellschaft gegen den „industriell normierten Freizeitverbrauch“, wo die „kulturelle Eigentätigkeit vom Rand der Gesellschaft in ihr Zentrum“ rücke. Doch da, wo sich der Vorschein dieser Lebensweise zeigt, setzt die SPD auf die Kultur des Verzichts. Im Geburtsort ihres Grundsatzprogramms, in der Stadt Bert Brechts, Heiner Müllers, Marlene Dietrichs oder Durs Grünbeins hat sie sich auf die sozialpolitische Reparatur und die Versorgung ihrer aussterbenden Klientel zurückdrängen lassen. Rückzug auf sich selbst.
Dabei hätte die Traditionskompanie selbst einen kulturellen Emanzipationskampf dringend nötig. Aber die Sozialdemokraten besetzen freiwillig nicht mehr auch nur ein Ressort, mit dem sie die neugierigen und beweglichen sozialen Milieus erreichen oder Diskurse über die Umbrüche im Zeitalter von Bild, Körper, Genuß, Techno und Multimedia anzetteln könnten. Nichts gegen ein Dach über dem Kopf für alle. Doch die Profilierung über den Plattenbau West, die urbane Verödungskultur à la Potsdamer Platz oder Arbeitslosenverwaltung ohne eine zeitgemäße Politik der Sinne wird scheitern. Zwar bedeutet ein CDU-Kultursenator nicht den Untergang kritischer Kultur, und fortschrittliche Kulturpolitik läßt sich auch anders als vom Regierungshochsitz aus beeinflussen. Doch daß ausgerechnet die abbruchreife Kulturruine der Berliner SPD Kulturimpulse aus der Mitte der Zivilgesellschaft initiieren könnte, glaubt wohl keiner. Die Große Koalition ist der Anfang eines Endes. Für die Erfinderin des trotz Finanzflaute längst nicht überholten Prinzips „Kultur für alle“ bedeutet sie die große Kapitulation. Ingo Arend
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