Berliner Mauerwanderweg (12): Neues Leben am Ende der Welt
Der eigenartige Verlauf der Mauer zwischen Frohnau und Glienicke Nordbahn lässt sich kaum mehr nachvollziehen. Im Mittelalter war der so genannte Entenschnabel der Aasplatz, später eingemauert.
Die Mauern von damals sind heute nur noch Stoffbahnen. In Pfirsich orange, aufgehängt an Bäumen. Kinder aus Reinickendorf und Glienicke haben damit den Verlauf der Grenze zwischen ihren Orten nachgezogen. Im Rahmen eines Kunstprojekts fragten sie Anwohner nach Geschichten und verhüllten den sogenannten Entenschnabel wie Christo anno 1995 den Reichstag. Sie spielen auf ihre Weise mit dem "Antifaschistischen Schutzwall".
Wo genau die Mauer hier entlangführte, wissen die wenigsten von ihnen. Auch ich stehe vor der Gedenktafel am Mauerradweg von Hohen Neuendorf nach Hermsdorf, zwischen Berliner Straße und Am Sandkrug, und finde mich nicht zurecht. Die Karten stehen Kopf. Wo ist jetzt Brandenburg, wo der Westen?
Der frühere Grenzwachturm: Damit die Grenzer von ihrem Posten aus einen freien Blick und ein freies Schussfeld hatten, waren die dünenartigen Hügel auf dem Grenzstreifen eingeebnet worden. Heute ist der Grenzwachturm nähe der Utestraße in Hohen Neuendorf ein Naturschutzturm, der seit 1990 von der Deutschen Waldjugend benutzt wird. Sie bietet vor allem für Schulklassen geschichtliche und biologische Projekttage an.
An der Ecke Oranienburger Chaussee/Edelhofdamm befindet sich der Gedenkort für Herbert Bauer und Michael Bittner. Jedes Jahr am 13. August, demJahrestag des Mauerbaus, treffen sich hier Vertreter von Reinickendorf (aus dem alten West-Berlin) und Glienicke (ehemals DDR) zu einer Gedenkveranstaltung. Der West-Polizist Herbert Bauer wird am 25. Dezember 1952 "von angetrunkenen sowjetischen Soldaten"erschossen, schreibt der Historische Kalenderdienst der Bundesstiftung Aufarbeitung. Michael Bittner versuchte am 24. November 1986 an der Nohlstraße über die Mauer nach West-Berlin zu fliehen und wurde erschossen.
Auf Höhe der Oranienburger Chaussee 13, fand am 24. Januar 1962 die erste Tunnelflucht statt. 28 Menschen konnten abhauen.
Der Entenschnabel: Nach dem Viermächte-Abkommen über Berlin fanden ab 1971 zwischen der Regierung der DDR und dem West-Berliner Senat Gespräche über einen Gebietsaustausch statt. Dabei wurde auch eine Grenzbegradigung an der Enklave Entenschnabel erwogen, um die Oranienburger Chaussee als West-Berliner Zufahrt zu einem neuen Grenzübergang zu nutzen. Als aber die DDR-Regierung die Einrichtung der "Grenzübergangsstelle Stolpe" am Zerndorfer Weg anbot, verlor die Frage nach dem Austausch für den West-Berliner Senat an Bedeutung.
Alle bisherigen Etappen sind im Internet zu finden unter taz.de/mauer
Glienicke macht an dieser Stelle eine eigentümliche Ausbuchtung, ein langgezogener Streifen Land, kaum einen Kilometer lang, noch weniger breit, der nach Berlin hineinragte. Links und rechts der Straße liegt Berlin-Frohnau, Am Sandkrug selbst ist Teil Brandenburgs. Von außen betrachtet sieht das Fleckchen aus wie ein Entenschnabel.
Im Mittelalter haben die Dorfbewohner hier den Aasplatz angelegt, am Ende ihrer Welt, möglichst weit weg von der Siedlung, um Seuchen zu vermeiden. Irgendein Gemeindevorsteher muss die bizarre Schleife in die Amtsbücher gemalt haben. Bis heute hat niemand das geändert. Nun ist es auch nicht mehr nötig.
Zu Mauerzeiten war der Entenschnabel stets hell erleuchtet, des nachts die Straße eine einzige Lichttrasse, mit diesen hohen bogenförmigen Lampenmasten. Die bloße Vorstellung lässt einen gruseln: Volkspolizisten kommen daher im Stechschritt, patrouillieren; glücklich, wer hier wohnt und noch Schlaf findet.
Das Ende der Welt war eingemauert und stets überwacht. Wer immer in die Straße wollte, braucht einen Passierschein. "Wie war das denn damals hier?" frage ich einen Anwohner, der auf seinem Grundstück den Weg zur Garage neu pflastert. "Ruhig", sagt er bloß. Sicher hätten hier doch nur von der Partei ausgesuchte Leute gewohnt, bemerke ich. Nein, keineswegs, verteidigt er sich, auch ganz normale Leute. Und heute? Des nachts sei es nicht mehr so hell. Ob auch schöner, das sei Geschmacksache, sagt er und deutet auf ein Nachbarhaus im amerikanischen Stil.
Von Grusellicht ist wirklich keine Spur mehr: Erst ließen die Anwohner die Lampen an den Masten tiefer anbringen, um das Licht zu dämpfen. Pünktlich zum Beginn des 20. Gedenkjahrs des Mauerfalls wurden sie ganz entfernt und das Licht den neuen Verhältnissen angepasst. Heute schimmern im Entenschnabel abends niedrige Retrolaternen.
Ein paar Straßen weiter in Hermsdorf wohnt Else Gaede. Auch sie weiß nicht mehr genau, wo die Mauer verlief, wie hieß die Straße noch mal? Aber das liegt daran, dass ihr Gedächtnis manchmal nicht mitspielt, sie ist schon 96 Jahre alt. An die Geschichten mit der Mauer aber erinnert sie sich, als wären sie soeben passiert.
Zum Beispiel das mit den Möbeln. Sommer 1961, kurz vor dem Mauerbau: Eine Bekannte von ihr wohnte im Entenschnabel, just am Zaun zwischen Ost und Westberlin. Sie wollte nach Südafrika auswandern, sie kam noch legal nach Westberlin, aber was war mit ihren Möbeln? "Marke Brumax", erinnert sich Else Gaede, "sehr edle Anbaumöbel". Die wollte die Frau nicht dem DDR-Staat überlassen. "Wir haben einen Plan geschmiedet."
Ein befreundeter Organist gelangte durch ein Loch im Zaun ins Haus der Bekannten. Dort baute er die Möbel auseinander, sogar das Klavier, und reichte sie Stück für Stück durch den Zaun. "Auf Daumen runter haben wir uns alle versteckt, denn das hieß, der Wachposten war wieder in der Nähe." Mit einem alten Plattenwagen karrten sie die Möbel in das Haus der Gaedes. Das Klavier hat Gaedes Mutter für die Bekannte verkauft, dem Meistbietenden. Die Frau habe schließlich Geld für die Überfahrt gebraucht.
Die Brumax-Möbel allerdings stehen bei Else Gaede noch im Haus, im ersten Stock. Dort, wo sie im August 1981 einem polnischer Flüchtling mit Solidarnosc-Abzeichen ein Quartier anbot. Dass ihr Haus von der Stasi beschnüffelt wurde, wusste sie. Sie hat ihn trotzdem aufgenommen.
Inzwischen ist die Stasi Geschichte, der Entenschnabel auch. Else Gaedes polnischer Mitbewohner hat die deutsche Staatsbürgerschaft, aber wenn er in Berlin arbeitet, wohnt er noch bei ihr - zusammen mit den, wie sie sagt, "ehrlich geklauten Möbeln".
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