Berliner Graffiti-Buch „BITTE LEBN“: Ästhetischer Widerstand
Urbane Kunst und Subkultur haben Berlin ihren Stempel aufgedrückt. Ein Bildband zeigt die Verbindung von Kunst und politischen Inhalten.
Und es gibt Bücher, die sind das genaue Gegenteil davon – und werden daher auch nicht im Tourist Store Unter den Linden verhökert. Das in diesem Frühjahr erschienene Buch „BITTE LEBN. Urbane Kunst & Subkultur in Berlin 2003–2021“ ist so eins.
Der 480-seitige Bildband aus dem anarchistischen Verlag Assoziation A verkauft bunte Hausfassaden nicht als Stadtmarketing und trennt Kunst und Kultur nicht von ihren politischen Inhalten. Er gibt stattdessen einen unverstellten Einblick aus dem Inneren einer Szene, die sich seit dem Jahr 2009 im und um das Netzwerk „Reclaim Your City“ organisiert und der Stadt ihren Stempel aufgedrückt hat.
BITTE LEBN
Der Titel „BITTE LEBN“ ist dabei selbst dem Freilichtmuseum dieser Stadt entnommen. Seit 2012 prangt der Schriftzug unter dem Dach an einer Fassade eines Gebäudes an der Schlesischen Straße, ergänzt um ein Anarcho-A und als Fortschreibung des benachbarten, noch aus Mauerzeiten stammenden Graffito „Bonjour Tristesse“.
Der kollektiven Autorenschaft des Buches – verknüpft durch das RYC-Netzwerk – ist mit ihrer Zusammenstellung von Hunderten Fotos und begleitenden Texten eine Hommage an eine, wie sie schreiben, „Kulturbewegung“ gelungen, die ab Anfang der 2000er „in einem nie dagewesenen Ausmaß das Stadtbild der Metropole veränderte“.
Berlin – der ideale Ort für kreative Potenziale
Den Ausgangspunkt für diesen „Frühling“ der Bewegung datiert das Buch auf das Jahr 2003, als sich das Berliner Graffiti-Heft Backjumps in ein Magazin für urbane Ästhetik und Kommunikation umbenannte und bei einer Ausstellung im Bethanien die lokalen Writer:innen mit internationalen Künstler:innen wie dem damals noch nicht weltbekannten Banksy zusammenbrachte.
Berlin war damals mit seinem Bestand an (einst) besetzten Häusern, selbstverwalteten, nicht kommerziellen Projekten und noch zu entdeckendem Leerstand der ideale Ort für die Entfaltung der kreativen Potenziale – für die „Aneignung von Stadtraum jenseits der Spielregen der kapitalistischen Marktwirtschaft“.
Die Relevanz dieser Bewegung ergibt sich vor allem aus der Verbindung von künstlerischer und politischer Bewegung. Die Autor:innen schreiben: „Wir wollten mit Kunst und Musik der bestehenden gesellschaftlichen Realität entfliehen, aber nicht als Ersatz, sondern als Begleitung der politischen Auseinandersetzungen. Beides gehört zusammen.“ Es ging dabei zugleich um eine Revitalisierung politischer Bewegungen, deren ästhetischer Ausdruck vielfach als „verstaubt“ und „technokratisch“ wahrgenommen wurde.
Der Kampf um die Stadt von unten wurde und wird nicht nur mit Spraydosen und Street-Art-Schablonen ausgetragen, sondern auch mit illegalen Raves in verlassenen Häusern, mit Urban Gardening, Demonstrationen und Polit-Happenings.
Gegen die Reglementierungen von Behörden
Immer geht es dabei darum, sich die Stadt anzueignen, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten, oftmals um den Kampf um universelle Rechte vom Wohnen bis zum Bleiberecht, wie sie unter dem Claim „Recht auf Stadt“ proklamiert werden. Besetzt wird der öffentliche Raum gegen Reglementierungen von Behörden oder Einschränkungen durch Privateigentum.
In zwölf Kapiteln, jeweils eingeleitet durch Karten mit markierten Orten, Crews oder Slogans, führt der Bildband durch die Kunst-Politik-Geschichte Berlins der vergangenen 20 Jahre. Angefangen bei der Vorgeschichte von Hausprojekten und linker Subkultur über die Hotspot-Kieze Kreuzberg und Nord-Neukölln, der Bewegung gegen steigende Mieten bis hin zu den Kämpfen gegen die A100 und der Räumung des Köpi-Wagenplatzes im vergangenen Herbst.
Es geht um Orte wie die einstige Cuvry-Brache, Aktionsformen wie die Räuberpartys in Abrissgebäuden oder die Dachmalereien der Berlin Kidz. Und der Blick geht auch über den Tellerrand hinaus, auf das Fusion-Festival oder zum Kongress der Hedonistischen Internationalen, ins Hamburger Gängeviertel. Aber auch Italien, Griechenland, die USA oder Mexiko finden ihren Platz.
Dass die „aneignerischen Praxen und Subkulturen“ dabei stets Gefahr laufen „selbst zur Marke, zum Standortfaktor zu werden“, also etwa in Form von Touri-Büchern den Wert der Stadt zu steigern, wird dabei nicht verklärt. Währenddessen werden die Möglichkeiten immer kleiner; die neoliberale Stadtentwicklung frisst Räume und alternative Projekte. Dies führt dazu, dass 2022 „viele der dargestellten Formen der Stadtaneignung in Berlin in dieser Weise kaum mehr möglich sind oder nur unter erschwerten Bedingungen“.
Womöglich aber hätte man Berlin ohne diese Bewegung schon ein paar Jahre früher für klinisch tot erklären können. Noch ist es nicht so weit. Möge das Buch, wie der Autor selbst schreibt, ein „Anstoß“ sein, „dass weiterhin viel flaniert, gemalt, geklettert, gehackt, kartiert, gefeiert, protestiert und vernetzt wird“.
„BITTE LEBN. Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003–2021“: Reclaim Your City, erschienen bei Assoziation A, 2022, 480 Seiten, 38 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“