Berliner Amateur-Fußball: Überlebenskampf der Urgesteine
Die West-Berliner Traditionsclubs Tennis Borussia Berlin und Reinickendorfer Füchse stehen vor dem Fall ins sportliche Nichts.
Der Anrufer auf der Geschäftsstelle von Tennis Borussia im Mommsenstadion fragt: "Wann ist das nächste Heimspiel?" Antwort: "Wann haben Sie denn Zeit?" Witze haben Hochkonjunktur, wenn ein Traditionsverein tief fällt. TeBe, Berlins Bundesligist aus den 70er Jahren, ist bis hinab in die Amateur-Oberliga gestürzt. Der freie Fall muss jedoch hier nicht enden. Gebeutelt von einem laufenden Insolvenzverfahren, dem zweiten innerhalb weniger Jahre, kämpft Borussia gegen den drohenden Abstieg in die Berlin-Liga. Umso wichtiger wäre am vergangenen Freitag ein Heimsieg gewesen.
Gegner Reinickendorfer Füchse krebst ebenfalls am Existenzminimum und im Tabellenkeller herum. "Wir waren ja schon totgeschrieben", sagte Füchse-Trainer Denis Drnda. Um die aufkommende Depression vor dem "Fast-Endspiel" (TeBe-Coach Cemal Yilmaz) kurzzeitig zu bekämpfen, musste man nur die aktuelle Oberliga-Tabelle umdrehen: Schon war TeBe virtueller Dritter statt Sechzehnter; die Füchse, im wahren Leben auf Rang 17, belegten den 2. Platz. Und im Handumdrehen begann damit eine Zeitreise ins alte Westberlin, als die Oberliga-Welt beider Klubs in der Mauerstadt noch heil war. Die Füchse holten damals in dem winzigen Revier, das Reisekosten auf den Preis einer U-Bahnkarte reduzierte und nur Derbys kannte, die Meistertitel 1989 und 1990. 1991 war TeBe der letzte Stadtmeister, bevor Westberlin in der neugegründeten nordostdeutschen Oberliga aufging. Die einstige Idylle war perdu. Mit ihr verschwand der Verdacht, Westberliner Amateure wollten eigentlich gar nicht in die 2. Bundesliga aufsteigen, weil sie auch ohne Stresstouren ins Bundesgebiet ihr finanzielles Auskommen im Sport hatten.
20 Jahre später herrscht bei TeBe und Füchsen Existenzangst. "Nicht nur unsere Gäste haben aus der Not eine Tugend gemacht", verkündete der Stadionsprecher im Mommsenstadion in seiner Anmoderation für die Mannschaftsaufstellungen. Reinickendorf hatte vier A-Jugendliche aufgeboten, die in dem 10.000 Zuschauer fassenden Stadion zunächst offenbar fremdelten, obwohl nur 400 Besucher erschienen waren. "Tolles Ambiente", staunte Drnda. Gastgeber TeBe beschwörte derweil einen Nostalgie-Schub durch Stargast Norbert Stolzenburg, seinen früheren Bundesliga-Torjäger. "Wir hoffen, dass seine Anwesenheit inspirierend wirkt", flötete der Stadionsprecher.
Es nutzte nichts. Weil dem 19-jährigen Yann Nkanga der Gaul durchging. Der TeBe-Verteidiger probierte nach 33 Spielminuten, ob seine Hand ins Gesicht eines Fuchses passte - und wurde vom Platz gestellt. "In so einem wichtigen Spiel darf man nicht austicken", schimpfte TeBe-Trainer Yildiz und kündigt eine Geldstrafe für den Sünder an. In Überzahl trafen die Reinickendorfer Hamdi Chamkhi (45. Minute) und Kevin Kruschke (83.) zum 2:0-Sieg der Gäste. "Wir haben in den entscheidenden Situationen alles falsch gemacht", klagte Yildiz.
Kollege Drnda ging im Siegestaumel triumphierend auf die Knie. Nach 153 Tagen auf einem Abstiegsplatz konnten sich die Füchse etwas Luft verschaffen. Drnda empfand Mitgefühl für Yildiz, der um seinen Job bangen muss: "Wir drücken TeBe die Daumen, dass sie in der Oberliga bleiben."
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Forscher über Einwanderungspolitik
„Migration gilt als Verliererthema“
Abschied von der Realität
Im politischen Schnellkochtopf
US-Außenpolitik
Transatlantische Scheidung
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine
„Wir sind nur kleine Leute“
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen