Berlinalie: Potsdamer Pups
Normale Kulturschaffende sind gewöhnt, dass ihre alljährlichen Zusammenkünfte zustande kommen wie Jahreszeiten: natürlich, unabwendbar und immer wieder gleich in ihrem immer wieder neu. Ob diese Erntedankfeste nun „Buchmesse“, „Art Cologne“, „Art Forum“, „PopKomm“ oder eben „Berlinale“ heißen. Nicht so in Berlin, wo alles anderswo Natürliche zur Zeit immer zu aufbruchhafter Neuheit und einschneidender Epochalität des Menschengemachten und Menschengewollten strebt.
So soll dann auch die diesjährige Berlinale eine ganz andere, nämlich die der verschiedenfach codierten Mitte(n) werden. Ihr Zentrum sei epochalerweise erstmals der sattsam zerredete Potsdamer Pups. Wo symbolisch-imaginär-real Kapital, Nation und deren gemeinsame Irrealisierung miteinander sonstwas tun. Dass und wie das Scheiße ist, ist vor allem langweilig. Aber eben auch Scheiße.
Normale Leute gehen abends ins Kino. Bilder und Symbole schleppen sie anschließend ins Nachtleben, ins Ehebett oder auf ein Bier noch in eine Kneipe, die in Charlottenburg zehn Minuten nach der Spätvorstellung eh schließt. Fiktionen, Reflexionen, ungute Träume schießen gemeinsam mit idiosynkratischen und persönlichen Interpretationen im Schutze von Nacht, Alkohol und Intimität ins Kraut.
Anders KritikerInnen und JournalistInnen: diese müssen tagsüber, meistens morgens zwischen 11 und 13 Uhr, ins Kino. Anschließend werden sie in die Welt gespuckt, wo sie am wirklichsten ist. Meist in die Innenstadt, wo kontingent ein Kran sich dreht oder eine Cro-Bag-Filiale ins Blickfeld gerät. Nur im Abgleich mit solchen wirklichkeitsgesättigten Zufallsdaten lassen sich Filme würdigen. Nur am anderen Ende der Künstlichkeitsskala, mitten in der mittelmodernstädtischen, undramatischen Vielfalt einer deutschen Großstadt lassen sich die Entscheidungen auf der künstlerischen Seite der Künstlichkeitsskala, an der ein Film entsteht, ermessen, verstehen, beschreiben. Z.B. auf dem Ku’damm.
Nun war gerade die Berlinale immer das Festiwaaahl (wie der Filmkritiker sagt), das genau dieses Pressevorführungsgefühl fürs ganze Festival zu bieten hatte. Spuckten einen die Kinos von Cannes, Venedig, San Sebastian oder Knokke an irgendwelche unwirklichen Strände, konnte Berlin immer mit einer echten Welt da draußen aufwarten, die nie verschwieg, dass sie die wirkliche ist. Es konnte nie passieren, dass man aus „The Beach“ kam und an „The Lido“ landete.
Als wirklich will uns allerdings auf Grund einiger vom Hersteller festgelegter kognitiver Voreinstellungen nur erscheinen, was in genügendem Maße als zufällig zustande gekommen erscheint. Ein Potsdamer Platz, dem die gehemmte, gleichwohl rastlose Menschennatur mit ihren grässlichen Absichten, im Dienste von Kapital und Nation ihr Bestes zu geben, so dermaßen ins Gesicht geschrieben steht, ist das nicht. Hier wird man auf Schritt und Tritt von dessen Geschichte behelligt, dieser Geschichte des Geldausgebens für nichts Gutes, wo’s nicht mal genügend Geld für was Grandioses gab. Und das ist nicht gut fürs Filmkritikenschreiben, wenn immer die Tragödie dieses Platzes sich in den Vordergrund drängt und um Mitleiden, Katharsis und dergleichen bettelt. Man muss direkt ins Kino rennen, um zwischendurch mal ein bisschen fiktionenfreie Kontingenz atmen zu können. Diedrich Diederichsen
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