Berlinale schaut auf Deutschland: Den Blick weiten

Das Programm „Fiktionsbescheinigung“ im Forum der Berlinale würdigt übersehene Filmemacher. Ihre Werke üben Kritik an deutschen Verhältnissen.

In einer langen Reihe sitzen Arbeiterinnen an Nähmaschinen hintereinander

In der Türkei verboten: „Kara Kafa“ von Korhan Yurtsever spielte im Ruhrgebiet Foto: Korhan Yurtsever

Morgen über dem Ruhrgebiet, die Fabriksirene reißt die türkischen Arbeiter im Wohnheim aus den Betten. Wenig später zieht sich einer nach dem anderen im Stahlwerk die Schutzkleidung über und steht an den Hochöfen. Als der Arbeitstag endlich vorbei ist, schmerzen die Knochen von der Hitze. Trotz aller Härte ist die Fabrikarbeit für Cafer ein Aufstieg aus dem Leben auf dem Land in der Türkei. Glücklich erzählt er den Kollegen, dass er eine Wohnung gefunden hat und nun seine Familie nachholen kann.

Ende der 1970er Jahre dreht der türkische Regisseur Korhan Yurtsever mit deutscher Unterstützung im Ruhrgebiet und Berlin sein Kollektivporträt „Kara Kafa“ (Schwarzkopf). Nach der Fertigstellung wurde der Film in der Türkei verboten, weil er „die Ehre Deutschlands, der befreundeten Nation“, verletze, Yurtsever wurde wegen des Films angeklagt und floh nach Berlin. Lange war der Film nur als Video verfügbar, nun hat das Arsenal in Zusammenarbeit mit bi’bak/Sinema transtopia den Film restauriert. Er ist eines der Kernstücke der Fiktionsbescheinigung, des Sonderprogramms des Forums der Berlinale.

In „Kara Kafa“ laufen die Dinge dann etwas anders, als Cafer sich das gedacht hat. Seine Frau politisiert sich durch Begegnungen mit türkischen Frauen in der Bundesrepublik und stellt alte Gewohnheiten in Frage. Gegen Ende protestiert eine Demonstration lautstark gegen Faschismus. In seiner dezidiert linken Perspektive auf das Leben türkischer Arbeiter_innen in Deutschland ist der Film ein unschätzbares Dokument.

Abarbeiten an deutschen Zuständen

Eingeführt, kurz nachdem Cristina Nord die Leitung des Forums übernommen hatte, ergänzt die Fiktionsbescheinigung seit drei Jahren das Programm des Forums, aber auch der Berlinale. Im Statement zur ersten Ausgabe hieß es: „Jeder Film ist ein Vorschlag, den weißen deutschen Blick mit vielfältigen, intersektionalen Perspektiven zu parieren […] Zeugenschaft von innen, nicht vom Rand.“

Von Mitte der 1970er Jahre, als er aus dem Iran nach Deutschland wechselte, bis Anfang der 1990er Jahre realisierte Sohrab Shahid Saless ein filmisches Werk, das sich an deutschen Zuständen und ihren zahllosen Abgründen abarbeitete. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von Versuchen, das Werk von Saless wieder sichtbar zu machen.

„Ordnung“ rückt einen Mann ins Zentrum, der jeden Fixpunkt in seinem Leben verloren hat. Herbert ist arbeitslos, morgens geht er die Straße, in der er gemeinsam mit seiner Frau wohnt, entlang und schreit „Aufstehen!“, bis die Anwohner aus den Fenstern schimpfen.

Er verweigert all die diversen Alltagshandlungen, die eher aus Gewohnheit und aus vermeintlichem Anstand geschehen. Seine Frau verzweifelt an seinem aus dem Takt geratenen Leben. Saless’ Film zeigt einen Mann, der an der Gesellschaft um ihn herum zerbricht, und diese Gesellschaft blickt ratlos auf ihn zurück, weil er ihre Grundfesten in Frage stellt.

Formen der Wut

1988, während des Studiums an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), drehte Wanjiru Kinyanjui ihren gerade einmal neun Minuten langen Film „A Lover & Killer of Colour“. Eine junge Frau sucht nach einer künstlerischen Form, ihre Wut zu artikulieren über die allgegenwärtigen sexistischen Anmachen und rassistischen Beleidigungen. Die Bilder zeigen sie beim Zeichnen, Malen, Schrei­ben, auf der Tonspur trägt sie ein eigenes Gedicht vor. Die junge Frau ist Alida Babel, die ab Anfang der 1990er Jahre in Babelsberg Regie studierte.

Fiktionsbescheinigung ist ein Programm von Forum Spezial auf der Berlinale, Infos unter www.berlinale.de

Chetna Vora richtet in „Oyoyo“ den Blick auf das ­Leben ausländischer Stu­dierender in der DDR. Ihr Film spricht mit den Bewohner_innen eines Studierendenwohnheims, lässt ihre individuellen Geschichten sich entfalten und setzt sie dann über das Gebäude in Beziehung zueinander.

Auch in diesem Jahr sind die zehn Filme der diesjährigen Fiktionsbescheinigung nicht einfach nur eine Bereicherung des Programms des Festivals, sondern eine notwendige, retrospektive Würdigung großer Filme. Zu Recht merkt Karina Griffith, die an der Auswahl der Filme beteiligt war, kritisch an: „Für manche Fil­me­ma­che­r*in­nen ist zu viel Zeit verstrichen, die Anerkennung kommt zu spät, und die Communities, die es hätte geben können, gibt es nicht, weil viele von ihnen nicht in Deutschland haben bleiben können.“

So richtig das ist, kann man als Publikum von heute nur dankbar sein, diese Filme gesammelt in einem Programm endlich sehen zu können. Schon weil jeder einzelne von ihnen großartig ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.