: Berlin wird zur Haupstadt der McJobs
In Berlin arbeitet nur noch jeder Dritte in einem „normalen“ Arbeitsverhältnis. Das liegt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Gleichzeitig haben geringfügige Beschäftigung, Scheinselbständigkeit und Leiharbeit zugenommen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Wissenschaftszentrums
von RICHARD ROTHER
Die Zahl der regulären Jobs ist in Berlin in den vergangenen Jahren rapide gesunken. Mittlerweile arbeitet nicht einmal mehr jeder Dritte im erwerbsfähigen Alter in einem so genannten Normalarbeitsverhältnis – einer unbefristeten Vollzeitstelle mit der üblichen sozialen Absicherung.
Berlin liegt damit deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Die Stadt scheint dabei ein Trendsetter bei der Etablierung eines neuen, hoch flexibilisierten Arbeitsmarktes zu sein, auf dem soziale Standards kaum noch eine Rolle spielen. Denn gleichzeitig haben in der Hauptstadt prekäre Beschäftigigungsformen – darunter werden geringfügige Beschäftigung, Scheinselbständigkeit, Teilzeitarbeit und Leiharbeit verstanden – innerhalb kurzer Zeit kräftig zugenommen. Zu diesen brisanten Ergebnissen kommen die Sozialforscher Heidi Oschmiansky und Günther Schmid vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) in einer Studie, die bisher wenig wahrgenommen wurde.
Die beiden Forscher haben dabei die Zahlen von 1985 bis Ende 1998 ausgewertet. Arbeiteten noch 1991 fast 45 Prozent der Berliner in einem regulären Job, so waren es sieben Jahre später mit rund 786.000 nur noch 32,2 Prozent. Das entspricht einem Rückgang von 274.000 „normalen“ Jobs. Im Bundesdurchschnitt blieb im gleichen Zeitraum der Anteil an regulären Jobs mit 37,3 Prozent nahezu konstant.
Der Rückgang des Normalarbeitsverhältnisses in Berlin sei aber auch als Teil eines Anpassungsprozesses zu sehen, räumen die WZB-Forscher ein. Unrentable Farbiken wurden dichtgemacht, insbesondere im Ostteil der Stadt. Die Deindustrialisierung setzte in Berlin erst nach dem Mauerfall ein, in anderen Ballungsräumen im Westen begann sie schon in den Achtzigerjahren. Zudem sei die Arbeitslosigkeit außergewöhnlich hoch.
Gleichwohl hat Berlin eine Vorreiterrolle bei der Umstrukturierung der Arbeitsmärkte übernommen, in denen reguläre Jobs fast eine Ausnahme sind. Darauf deuten einige Aspekte der Berliner Entwicklung hin: Nirgendwo arbeiten so viele Frauen wie in Berlin, oft in unsichereren Jobs als Männer. Auch der Anteil der (Schein-)Selbständigen liegt deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Berlin hat mittlerweile im Vergleich zu anderen (westlichen) Ballungsregionen die niedrigste Industriedichte. Zudem expandiert der Dienstleistungssektor, der in Berlin bereits eine höher Bedeutung als in der Bankenmetropole Frankfurt/Main hat.
Der Dienstleistungssektor – der einzige, in dem Berlin Arbeitsplatzzuwächse verzeichnet – weist jedoch einen überdurchschnittlichen Anteil an ungesicherten Jobs auf. „Insofern könnte Berlin eine Trendsetterfunktion haben“, analysieren die WZB-Forscher. Sprunghaft gestiegen ist beispielsweise die Zahl der Arbeitsplätze in Call-Centern, in denen „normale“ Arbeitsverträge Fremdwörter sind.
Die Berliner Sonderrolle trifft auch bei Kurzzeitjobs zu. 114.000 Berliner arbeiteten 1998 zeitlich befristet, das entspricht 5 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung – doppelt so viel wie im Bundesdurchschnitt.
Bei den Selbständigen nimmt Berlin ebenfalls eine Sonderrolle ein. Während die Selbständigkeit im Bundesdurchschnitt stagniert, hat sie in Berlin zugenommen. 1998 waren es bereits rund 175.000. Von Selbständigen wird die Schaffung zusätzlicher Arbeitskräfte erwartet, ein Grund für diverse Förderprogramme für Existenzgründungen. Die Fakten belegen dies jedoch nicht: Der Anteil der Selbständigen, die keine Arbeitnehmer beschäftigten, liegt weit über dem der Selbständigen mit Beschäftigten.
Bei Selbständigen ohne Beschäftigte wird jedoch eine Zunahme der Scheinselbständigkeit vermutet. Scheinselbständige sind Berufstätige, die zwar formal selbständig, tatsächlich jedoch als abhängig Erwerbstätige zu werten sind – gerade in der boomenden Medien- und Internet-Branche ist das gang und gäbe. Ein Beispiel: ein „freier“ Web-Designer, der täglich im Büro seines Auftraggebers Homepages gestaltet.
Die Forscher warnen deshalb vor einer „wildwüchsigen Flexibilisierung“. Diese würde zu einer Spaltung des Arbeitsmarktes führen. Oschmiansky/Schmid fordern deshalb von der Politik eine „gestaltete Flexibilisierung“. Diese müsse Alternativen zum traditionellen Arbeitsverhältnis bieten und so „die dauerhafte Ausgrenzung eines Teils der Erwerbsbevölkerung verhindern helfen“. Die Forscher schlagen so genannte Beschäftigungsbrücken vor. Diese müssten die Übergänge zwischen den einzelnen Erwerbsformen erleichtern und institutionell absichern.
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