■ Bericht zu Übergriffen kanadischer Truppen in Somalia: Blick in den Abgrund
Der Untersuchungsbericht zum Verhalten der kanadischen UN-Blauhelmtruppen in Somalia ist ein Blick in den Abgrund. Erschreckend und in ihrer Wirkung nachhaltig sind weniger die seit Jahren bekannten Übergriffe kanadischer Soldaten auf somalische Zivilisten. Es geht vor allem darum, daß der militärische Apparat sich als unfähig erwies, mit den eigenen Fehlern umzugehen. Hohe kanadische Militärs haben von „Alptraum“ gesprochen – und meinen damit nicht das Debakel in Somalia, sondern die Untersuchung dieses Debakels.
Der Leiter der Untersuchungskommission hat die Vertuschungsversuche der kanadischen Militärführung mit den Winkelzügen US-amerikanischer Stellen nach dem Massaker im vietnamesischen My Lai durch US-Soldaten 1968 verglichen. Als das Ausmaß amerikanischer Greuel in Vietnam offenkundig wurde, war die Kritik an Militarismus und Krieg ein wichtiger Bestandteil der 68er Revolte in den USA. Nun durchleidet Kanada ähnliche Zweifel am Selbstverständnis – das Selbstverständnis einer friedliebenden und antimilitaristischen Nation.
Doch jenseits der jetzt neu aufbrechenden innerkanadischen Diskussion um Rolle und Selbstbild des Militärs tut sich ein größeres Problemfeld auf. Wenn schon Kanada mit seinem Somalia-Engagement solche Probleme hat – wie steht es dann um andere Truppenentsendungsländer, die zu Militärinterventionen ein unbekümmerteres Verhältnis haben? Die Menschenrechtsorganisation African Rights gewährte Kanada in ihrem 1993 veröffentlichten Bericht über Menschenrechtsverletzungen durch UN-Truppen in Somalia eine einzige von 34 Seiten und pries das „im allgemeinen zivilisierte Verhalten“ der Kanadier. Den USA und Belgien wurden viel schwerere Vorwürfe gemacht. Somalische Politiker sprechen von 10.000 durch UN-Soldaten getötete Zivilisten – eine Zahl, die nur durch genaue Untersuchungen bewiesen oder widerlegt werden kann. Aber wo gibt es eine solche Untersuchung? Erst vor kurzem wurden in Belgien zwei Soldaten freigesprochen, die zugegeben hatten, ein somalisches Kind über ein Lagerfeuer gehalten zu haben. Die kanadische Untersuchung weist da den richtigen Weg – aber der offengelegte Abgrund ist so tief, daß ihn wohl kaum ein anderes Land freiwillig gehen wird. Dominic Johnson
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