piwik no script img

Bericht des MissbrauchsbeauftragtenUnerträgliches Schweigen

Der Missbrauchsbeauftragte kritisiert, dass die Regierung noch immer keinen Entschädigungsfonds eingerichtet hat. Auch ein Gesetz zur Stärkung der Opferrechte müsse her.

Zerstörte Kindheit: Die telefonische Anlaufstelle bekommt zehn Anrufe pro Tag. Bild: dpa

BERLIN afp | Der Unabhängige Beauftragte für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, hat Bundesregierung und Länder aufgefordert, den vor einem Jahr zugesagten Hilfsfonds über 100 Millionen Euro für die Opfer endlich einzurichten. „Bis heute haben Betroffene keine Sicherheit, dass der Fonds überhaupt kommt“, sagte Rörig am Donnerstag in Berlin bei einer Bilanz seiner Arbeit in diesem Jahr. Das Schweigen in Bund und Ländern sei „aus Sicht der Betroffenen unerträglich“.

Rörig war der ehemaligen Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) im Dezember 2011 im Amt des Missbrauchsbeauftragten gefolgt. Die Einrichtung des Hilfsfonds war ein Ergebnis der Arbeit des sogenannten Runden Tisches zu sexuellem Kindesmissbrauch. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte im November 2011 für die Bundesregierung angekündigt, 50 Millionen Euro in den Fonds einzuzahlen.

Rörig kritisierte weiterhin, dass das angekündigte Bilanztreffen des Runden Tischs nicht wie geplant im Dezember stattfinden wird, sondern auf Februar 2013 verschoben wurde. „Ich hoffe, dass das Bilanztreffen im Februar 2013 eine gute Chance ist, Versäumtes nachzuholen“, sagte er.

Der Missbrauchsbeauftragte sieht auch im Bereich der Gesetzgebung dringenden Handlungsbedarf. So müsse das Gesetz zur Stärkung der Rechte der Opfer sexueller Gewalt „schnell verabschiedet“ werden. Der Entwurf schlummere seit 18 Monaten im Rechtsausschuss des Bundestags.

Mehr Beratungsstellen gebraucht

Das Netz an Beratungsstellen sei gleichfalls weiter zu dünn. Derzeit gebe es rund 300 Fachberatungsstellen für den Bereich des sexuellen Missbrauchs in Deutschland. „Betroffene Jungen müssen oft 200 Kilometer zurücklegen, um Beratung zu erhalten“, sagte Rörig. Das sei zu viel.

Der Missbrauchsbeauftragte befragte im Sommer schriftlich rund 12.000 private und öffentlichen Einrichtungen zum Thema Missbrauch, darunter unter anderem Schulen, Internate, Kliniken für Kinder und Jugendliche, Kitas und Sportvereine. Rund 3.000 Fragebögen wurden zurückgesandt. Laut Rörig setzten 61 Prozent der Einrichtungen Präventionsmaßnahmen um, 36 Prozent machten eine Risikoanalyse und 43 Prozent formulierten Verhaltensregeln oder einen Ehrenkodex, um sexuellen Missbrauch zu verhindern.

Laut Rörig wird die von Christine Bergmann ins Leben gerufene telefonische Anlaufstelle weiter stark genutzt. „Wir erhalten täglich etwa zehn Anrufe“, sagte er. Seit ihrer Einrichtung im Frühjahr 2010 seien über 30.000 Kontaktaufnahmen eingegangen, etwa 14.000 Beratungsgespräche hätten am Telefon stattgefunden. Rund 4000 Mails von Hilfesuchenden trafen bei der Stelle des Unabhängigen Beauftragten ein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • WB
    Wolfgang Banse

    Sls skandalös kann man es bezeichnen,wie man mit Missbrauchsopfern umgeht.

  • AO
    Angelika Oetken

    Dass das Interesse der Verantwortlichen am Thema nachgelassen hat, ist überhaupt kein Wunder. Nur wenige Missbrauchsbetroffene outen sich, was dazu führt, dass wir nicht als gesellschaftlich relevante Gruppe wahrgenommen werden.

    Zwar gibt es Forschung, die belegt, dass jeder achte Erwachsene in Deutschland in der Kindheit im strafrechtlichen Sinne schwer missbraucht wurde, aber das ist den wenigsten Menschen wirklich bewusst.

     

    "Missbrauchsopfer" - das sind immer die Anderen.

     

    Dabei haben sich gesellschaftliche Einstellungen grundsätzlich geändert. Erst recht, nachdem vor fast drei Jahren ehemalige SchülerInnen von Eliteeinrichtungen die Öffentlichkeit und die Politik damit konfrontierten, dass es bislang gut beleumundete Schulen und Internate gibt, an denen systematisch Kinder und Jugendliche mit Wissen der Verantwortlichen missbraucht wurden.

     

    Es braucht wohl noch mehrer Skandalwellen, bis nachhaltige Veränderungen und vor allem auch die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden.

     

    Missbrauch in Therapie und Medizin und Kinderhandel auf "VIP"-Ebene: das sind Themen für die nächste Zukunft und ich hoffe, dass diejenigen, die bereits Erfahrung mit dem Outing und der Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen und den Institutionen haben ihr Wissen mit denen, die folgen teilen.

     

    Davon können auch all diejenigen profitieren, die bislang eher Einzelkämpfer sein müssen, aber die größte Opfergruppe darstellen: Menschen, die als Kind von Tätern aus dem familiären Umfeld missbraucht wurden. Die haben nämlich bislang eine ganz schlechte Lobby.

     

    Missbrauch betrifft alle - und wenn es "nur" darum geht, dass Täter selten in finanzielle Haftung genommen werden. Bislang kommt die Allgemeinheit für die immensen volkswirtschaftlichen Schäden auf, die sexualisierte Übergriffe verursachen.

     

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von über 7 Millionen Wahlberechtigten in diesem Land, die in der Kindheit Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden