Belastung bei Lehrer*innen in Berlin: Deutlich über Stundenplan
Lehrer*innen in Berlin leisten pro Jahr über 2 Millionen Stunden unbezahlte Mehrarbeit. Die GEW fordert eine verbindliche Arbeitszeiterfassung.
Die Mehrarbeit der Lehrer*innen fällt dabei in ihrem Arbeitsalltag einfach unter den Tisch. Denn Lehrer*innen werden für eine bestimmte Anzahl an Unterrichtsstunden eingestellt. Wie und wann sie die vor- und nachbereiten, wann sie Klassenarbeiten korrigieren und wie sie ihre Zeit auf Elterngespräche, Gespräche mit und über Schüler*innen, Organisation von Fahrten und Ausflügen sowie zahlreiche Schulkonferenzen verteilen, das bleibt ihnen selbst überlassen. „In anderen Arbeitsverhältnissen folgt bei Mehrarbeit in der Regel nach sechs Wochen ein Zeitausgleich“, sagt Frank Mußmann, Leiter der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Uni Göttingen, der die Studie maßgeblich durchgeführt und ausgewertet hat.
Knapp ein Drittel der Lehrer*innen überschreitet laut der Studie zudem regelmäßig die gesetzlich festgelegte Höchstarbeitszeit. Sie kommen in Schulwochen auf eine durchschnittliche Arbeitszeit von mehr als 48 Stunden. Insgesamt leisten laut Studie rund zwei Drittel der Lehrer*innen Mehrarbeit.
Besonders belastet sind demnach Schulleitungen, Gymnasiallehrer*innen, aber auch Lehrer*innen, die nur Teilzeit arbeiten – denn an Konferenzen müssen sie trotzdem voll teilnehmen, und auch wenn sie viele Schüler*innen und damit Korrekturaufgaben haben, beeinflusst das die Arbeitszeit. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Berlin mehr als 1.300 weitere Lehrer*innen in Vollzeit einstellen müsste, um die Mehrarbeit aufzufangen – zusätzlich zu den aktuell eh schon knapp 1.000 unbesetzten Stellen. Dabei seien die 1.300 noch „sehr grob, sehr vorsichtig kalkuliert“, sagt Mußmann.
Ein Schuljahr lang Arbeitszeit erfasst
Für die Studie hatten rund 1.200 Lehrer*innen ein Jahr lang ihre Arbeitszeit minutengenau erfasst. Die Uni hatte ihnen dafür eine App zur Verfügung gestellt, in die sie Arbeitsanfang und -ende sowie die Art ihrer Tätigkeit eintragen sollten (siehe Beitext). Beteiligt waren Lehrer*innen von allen Schulformen, wobei die Daten der Lehrkräfte der berufsbildenden Schulen nicht in die Auswertung eingeflossen sind.
„Ich habe meine Zeiten eingetragen, dann die Zahlen gesehen und gedacht: Wow, da ist viel zusammengekommen. Das war wie ein Realitäts-Check: Ja, der Arbeitsalltag fühlt sich schon belastend an. Doch damit hatte ich eine Rückmeldung. Ich habe festgestellt, wie viele Tätigkeiten wir als Lehrer ausführen. Ich konnte zehn Tätigkeiten neben dem Unterrichten für mich auflisten: von der Unterrichtsvorbereitung über pädagogische Gespräche, Pausenaufsicht, Elterngespräche, Mailverkehr, Konferenzen und Weiterbildungen bis zum Aufräumen des Arbeitsplatzes.
Mir hat die Studie auch gezeigt, wie viel wir parallel machen. Das habe ich daran gemerkt, wie oft ich geschwankt habe, in welchen Bereich ich meine Tätigkeit eintrage – wenn ich etwa in der Pausenaufsicht noch ein pädagogisches Gespräch führe oder während der Unterrichtsvorbereitung nebenbei Mails beantworte. Oder wenn ich eigentlich gerade den Raum vorbereite und eine Schülerin mich anspricht. Das kann ich gar nicht alles einzeln erfassen, das läuft alles nebeneinander. Es zeigt mir auch, wie verdichtet unsere Arbeit ist. Zum Teil war das auch wie eine Selbstkorrektur: Ich habe versucht, so zu arbeiten, dass ich nur eine Sache erfasse.
Was auch deutlich wurde: dass es übers Schuljahr gesehen noch einmal besonders verdichtete Tage oder Wochen gibt. Etwa vor Weihnachten, zum Halbjahreswechsel oder zum Jahresende. Und wie viel ich auch am Wochenende oder in den Ferien arbeiten muss – einfach, weil wir im Schulalltag Fristen haben, die wir einhalten müssen. Jetzt zum Beispiel habe ich Abi-Klausuren zur Zweitkorrektur bekommen, die muss ich am Freitag an meinen Kollegen zurückgeben, und danach bekomme ich noch mehr.
Ich habe auch schon gehört, dass Kolleg*innen sich krankmelden, um dann zu Hause zu arbeiten: weil die Fristen anders nicht einzuhalten sind. Es ist wichtig, unsere Arbeitszeit sichtbar zu machen. Es muss jetzt eine Arbeitszeiterfassung für Lehrer*innen eingeführt werden, das finde ich am wichtigsten. Aber es geht nicht nur um die Zeit, sondern auch darum, wie stark die Belastung ist. Oft müssen wir viele Entscheidungen in sehr kurzer Zeit treffen, das schlaucht. Die reine Zeiterfassung macht nicht jede Belastung sichtbar.“
Maximilian Tessenow, 36, ist Lehrer an einer Integrierten Sekundarschule in Neukölln und dort im Personalrat sowie bei der GEW aktiv. Er hat über die gesamte Laufzeit an der Studie teilgenommen.
Besonders in Vollzeit beschäftigte Lehrer*innen seien aus der Studie ausgeschieden, weil sie es neben dem Schulbetrieb nicht mehr geschafft hätten, ihre Arbeit zu erfassen, sagt Mußmann. „Wir hatten viele Personen, die anfangs sehr engagiert dabei waren, die uns dann aber geschrieben haben, dass sie anders priorisieren mussten“, sagt er. Für die Studie sei die Erfassung von mehr als 20 verschiedenen Tätigkeiten tatsächlich aufwändig gewesen, erläutert er.
Die Studie macht auch sichtbar, wo die Mehrarbeit anfällt: Der Unterricht an sich macht demnach 31 Prozent der Arbeitszeit von Lehrer*innen aus, rund 32 Prozent wenden sie für Vor- und Nachbereitung und Korrekturen auf. 7 Prozent fällt auf Funktionen wie etwa Schulleitung oder Stufenkoordination. Und in den verbleibenden 30 Prozent führen sie Gespräche, organisieren ihren Arbeitsplatz, nehmen an Konferenzen teil, bilden sich weiter oder organisieren Fahrten. „Diese außerunterrichtlichen Aufgaben nehmen immer mehr Raum ein, da sehen wir einen ungebrochenen Trend“, sagt Mußmann. Der historische Vergleich zeige, dass Lehrer*innen auf diesen Bereich in den 1960er Jahren rund 16 Prozent ihrer Arbeitszeit verwendet hätten.
Doch die hohe Arbeitszeit ist aus Sicht der Wissenschaftler nur „die Spitze des Eisbergs“, wie Thomas Hardwig sagt, ebenfalls von der Uni Göttingen. Denn neben der Arbeitszeit hat die Studie die teilnehmenden Lehrer*innen auch zu ihrer Arbeitsbelastung befragt. Dabei kam heraus, dass Digitalisierung – oft vom Senat als Hilfe für die Lehrer*innen genannt – kaum entlastet, sondern neue Probleme schafft.
Von Burnout bedroht
Lehrer*innen befänden sich außerdem in einer „Gratifikationskrise“, sie seien im Vergleich weit unzufriedener als Beschäftigte in anderen Berufsfeldern, weil sie ihre Arbeit aufgrund der Belastungen nicht so ausführen könnten, wie sie das gern wollten. Und weil sie wenig Anerkennung bekämen. Außerdem sie seien mehr von Burnout gefährdet. „Es reicht nicht, die Arbeitszeit zu verkürzen – wir müssen auch die Arbeitsbedingungen verbessern“, sagt Hardwig.
Die GEW forderte die Senatsverwaltung für Bildung auf, angesichts dieser Ergebnisse zu handeln. Die Gewerkschaft will auch rechtliche Schritte prüfen und eine Pilotstudie für eine generelle Arbeitszeiterfassung an Berliner Schulen anlaufen lassen, die auch mit den EU-Vorgaben dazu vereinbar sein soll.
„Der Senat muss die tatsächliche Arbeitszeit vollständig erfassen und gemeinsam mit den Personalräten an den Schulen verbindliche Regelungen zum Abbau der Mehrarbeit schaffen“, forderte Martina Regulin, Vorsitzende der GEW Berlin, bei der Vorstellung der Studienergebnisse.
„Die chronische Überlastung muss gestoppt werden – für die Gesundheit der Lehrkräfte, für die Bildung und um den Beruf wieder attraktiv zu machen“, sagte sie. Der Senat würde die Probleme aussitzen. Die GEW habe konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen an Schulen gemacht. Darauf wies auch Studienmacher Frank Mußmann hin. Und er sagte: „1.300 neue Lehrer*innen – das köMangel an Anerkennung nnte die Verwaltung schaffen. Es ist machbar, das über die kommenden Jahre aMangel an Anerkennung ufzubauen.“
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