Behinderte im Visier der StaSi: "Laufen wollt ich, doch man gab mir Flügel"
In Thüringen entstand vor 30 Jahren so etwas wie die Kommune 1 der DDR. Hartroda war ein einmaliges Lebensprojekt Behinderter - zum Missfallen der StaSi.
Bertram sitzt am Küchentisch und dreht sich seine Zigaretten aus der Tupperdose. Sein halbes Leben schon wohnt er in dieser WG in Hartroda. Seine Augen blicken freundlich, aber mutlos. Früher in der DDR verdingte sich der drahtige Mann als Transportarbeiter bei der Wismut. In dem Bergbauunternehmen, wo sie hier in Sichtweite Uran abbauten. Nach der Wende schult er zum Tischler um - einen Job findet Bertram nicht. Er ist 44 Jahre alt. Und das Reden überlässt er lieber Sylvia, die fast genauso lange hier lebt, in der WG. Sie war einmal Verkäuferin, hat eine Ausbildung zur Familienpflegerin gemacht, sie ist selbstbewusster als Bertram, Arbeit hat sie trotzdem keine bekommen. Die anderen Mitbewohner, sieben sind es derzeit, lassen sich nicht blicken, sitzen oben in ihren Zimmern und hören Musik. Jeder lebt für sich.
Wer die prallen Aktenordner bezwungen hat, die die Stasi über diese Wohngemeinschaft seinerzeit zusammentrug, erwartet von einem Besuch in Hartroda etwas anderes, etwas Subversives. Bertram findet: "Hier passt man ein bisschen aufeinander auf." Anderswo leben? Sylvia spielt dieses Szenario oft durch. Einmal hat sie versucht, wegzukommen. Nach einem Jahr zog sie wieder ein. Irgendwann ist ihr vielleicht klar, dass sie hier rausmuss. "Irgendwann", "vielleicht", Sylvia schaut, als glaubte sie sich selbst nicht: "Ich hab Schiss davor."
Die Kommunarden in Hartroda sind Gefangene von Hartz IV. Das hat ihnen die Selbstständigkeit ausgetrieben. Wenn sich Sylvia vergewissern will, dass das mal anders war, dann holt sie aus ihrem Zimmer die Kiste mit den Fotos. Wenn sie die Bilder wieder sieht, dann merkt man, wie mit den dazugehörigen Geschichten Sylvias Mut wächst. Hier zu wohnen, das bedeutete Selbstbefreiung. Wenn sie erzählt, fällt vor allem ein Name: Matthias Vernaldi.
In der Lesart der DDR-Staatsführung war die Kirche - in der DDR meist die protestantische - ein Gegner und ein historisches Übergangsphänomen. Der Religionsunterricht an Schulen wurde abgeschafft, christliche Schüler wurden von Lehrern mitunter öffentlich als naiv stigmatisiert. Wer aktiv kirchlich tätig war, setzte sich dem Risiko aus, von der Schule relegiert zu werden. Entsprechend entwickelten sich auch die Mitgliederzahlen in der evangelischen Kirche: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ging von über achtzig Prozent in den Fünfzigerjahren auf sechzig Prozent bis zur Wende im Jahr 1989 zurück.
Dennoch bot die Kirche institutionalisierte Freiräume. Sie war die einzige Organisationsstruktur, die formal vom Staat unabhängig war. Gerade die "Jungen Gemeinden" (JG) - die evangelische Organisationsform der offenen Jugendarbeit - gerieten deswegen schon ab 1952 ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Unter dem Dach der JG fanden Aussteiger, Punks und Andersdenkende eine Möglichkeit des Austauschs. So entwickelten sich die JG, so auch in Jena (Thüringen), zu Sammelpunkten nicht kirchlich gebundener systemkritischer Jugendlicher und zu Keimzellen der späteren Oppositions- und Friedensbewegung. Die JG in Jena, die auch Kontakte zur WG in Hartroda und Matthias Vernaldi pflegte, wurde von der Stasi als "feindlich-dekadent" eingestuft. Über die Jahre waren mindestens sechzig IMs allein hier in Kirchenfragen aktiv. Die SED war entschlossen, den Einfluss der Kirche innerhalb ihres Herrschaftsgebiets zurückzudrängen. Nicht angepasste Pfarrer wie Walter Schilling aus dem thüringischen Braunsdorf wurden psychisch und physisch unter Druck gesetzt. Schilling war eine der Schlüsselfiguren bei der Entwicklung der Jungen Gemeinden. Zuständig für die "Bearbeitung" der Kirche im Apparat des MfS war die HA XX/4: die Hauptabteilung XX, die sich um die Bekämpfung "politisch-ideologischer Diversion" und "politischer Untergrundtätigkeit" kümmerte; mit dem "Referat 4", zuständig für Kirchen und Religionsgemeinschaften. Vor allem unter dem Offizier Artur Hermann konnte das MfS zunehmend die Spitze der Thüringischen Landeskirche mit Spitzeln unterwandern. Hermann arbeitete seit Ende der Sechzigerjahre in der Bezirksverwaltung Gera der Staatssicherheit, die auch die operative Bekämpfung der Wohngemeinschaft in Hartroda verantwortete. Laut Walter Schilling behauptete Artur Hermann im Jahr 1976: "Im Landeskirchenrat haben wir die Mehrheit." Bereits seit Anfang der Siebzigerjahre versuchte das MfS in Thüringen seinen Einfluss auf kirchliche Entscheidungsträger auszuweiten. IM "Günter", ein Oberkirchenrat (OKR), verkündete in einem Gespräch mit Artur Hermann die "Einsicht in die Notwendigkeit direkter Kontakte zum MfS zur Durchsetzung der Kirchenpolitik aus der Sicht der Landeskirche". Laut Schilling waren zu dieser Zeit mindestens fünf Oberkirchenräte und Kreiskirchenräte direkte Zuträger des MfS, darunter der Stellvertreter des Bischofs. Die Stasi konnte damit "bis in die unteren Stellenbesetzungen entscheiden, wer zum zweiten Theologischen Examen und zur Pfarrvikarsprüfung zugelassen wird", so Schilling. Als Konsequenz der Durchsetzung der Kirche durch einzelne IMs verschärfte sich in den Achtzigerjahren der Konflikt zwischen Kirchenleitung und Oppositionsbewegung. Mit Zunahme der Repressionen wuchs die Kritik der kirchlichen Basis an der Amtskirche. 1987 entstand die "Kirche von unten", die sich bewusst von der offiziellen "Kirche im Sozialismus" absetzt. In der Wendezeit wurden die Kirchen zum Ausgangspunkt vieler Demonstrationen. KAS
Dieser Matthias Vernaldi entwickelt in Hartroda den Mut, sich über staatliche Fesseln hinwegzusetzen. Die Kommune und dieser bärtige Mann im Rollstuhl lassen sich nicht getrennt erzählen. Ohne ihn hätte es Hartroda nie gegeben. Und ohne die Kommune, davon ist er überzeugt, wäre er schon unter der Erde. Stattdessen wohnt er heute selbstbestimmt im Berliner Stadtteil Neukölln. Für einen Mann ohne Muskelkraft ist das alles andere als selbstverständlich: Vernaldi hatte in seinem Leben Sex mit Frauen, war Prediger, setzt sich seit Jahren lautstark für die Rechte Behinderter ein und wirkt derzeit an einer Zeitung für das "Organisierte Gebrechen" mit. Vernaldi hat es geschafft, aus seinem genetischen Gefängnis zu fliehen.
Die Flucht beginnt mit einem Gegenmodell in der DDR: Behinderten und Nichtbehinderten gelingt es, in diesem vorstrukturierten Staat, der keine Nischen für Abweichler erlaubt, eine selbstbestimmte Kommune zu gründen. Ein kleine Revolution innerhalb der DDR, die in einem kleinen Thüringer Dorf vollzogen wurde. Ein Kaff mit knapp fünfzig Einwohnern, meist Bauern oder bartstoppelige Malocher vom Uranabbau. Dieses Wohnprojekt wirkt auf die Stützen des Sozialismus etwa so irritierend, als würde McKinsey heute Fünfjahrespläne propagieren. Willfährige Spitzel und Hauptamtliche des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) füllen in elf Jahren rund 2.000 Seiten, abgeheftet in T-Gleit-Ordnern der VEB Organisationstechnik Eisenberg. Sie nennen ihre Akten "Parasit" und "Kommune". Ihre Feinde sind Spastiker, Querschnittgelähmte, Muskelkranke. Damals existieren fast ausschließlich Gründe, die Hartroda zum Scheitern verurteilen: Aber als Matthias Vernaldi mit neunzehn Jahren hier ankommt, kennt er die Alternative. Er musste sie sieben Jahre erdulden. In der Landkommune entwickelt er die nötige Energie, sich so etwas für immer zu ersparen. Die Entstehung der WG in Hartroda erklärt sich aus dem repressiven Umgang des Staates mit Schwerstbehinderten - Menschen, von denen ein Arbeiter-und-Bauern-Staat nichts Produktives zu erwarten hat. Matthias Vernaldi ist ein Beispiel für diesen Umgang.
In der DDR gilt für Behinderte unter achtzehn Jahren eine Meldepflicht bei den Abteilungen des Gesundheitswesens. So normiert, klassifiziert und sortiert das System seine Bürger. Matthias Vernaldi hat wie seine Schwester progressive Muskeldystrophie, von Geburt an. Menschen wie ihn trennt der Apparat von gesunden Schülern, er trennt Kinder von ihren Familien, auch gegen den Willen der Eltern. Im Jahr 1966 kommt er deswegen mit sieben Jahren in das "Haus am Seeberg" nach Gotha. Es ist eine der wenigen Schulen für Körperbehinderte mit angeschlossener orthopädischer Klinik. Den herrschaftlichen Bau ziert ein kleiner Turm neben dem Portal. Hinter der schmucken Fassade der Villa aber interniert das Haus am Seeberg Aussortierte wie Vernaldi. Sein Zimmer ist ein Saal mit etwa 25 Betten, dazwischen Flure, gerade breit genug für die Rollstühle. Privat ist nur das Nachtschränkchen am Bett. Die Kinder sind Faktoren in einem durchrationalisierten Prozess. "Die gingen durch die Bettreihen und zogen den Leuten die Hosen runter, legten reihum Pinkelpullen an oder Bettpfannen", sagt Vernaldi. Wie am Fließband müssen die Schwestern ihre Arbeit organisieren, wenn auf eine Pflegerin fünfundzwanzig Kinder kommen, die sich weder allein waschen noch anziehen können, die für die alltäglichsten Dinge Hilfe benötigen. "Zum Teil sind behinderte Menschen mit Medikamenten ruhig gestellt worden", erinnert sich ein späterer Bekannter. "Die wurden früh gewaschen, dann kriegten sie eine Tablette hinterher, damit sie bis zum Mittagessen ruhig waren. Das ist keine Lebensperspektive für Menschen, die was wollen und die so hochintelligent sind wie Matthias Vernaldi."
inder, die auf die soziale Akkordarbeit, auf die institutionelle Gewalt renitent reagieren, erwartet der Dachboden. Eine hohe Kiste steht dort bereit. Die Schüler nennen sie "Mäusekiste". Ein Rebell muss nur darin abgelegt werden, dann hat es sich mit seinem Aufstand. "Die konnten ja nicht laufen, also blieben sie darin dann liegen. Im Dunkeln, im Dreck, wir sagten: Da sind tote Mäuse drin", erinnert sich Vernaldi.
Der medizinische Blick dominiert die Sonderpädagogik der DDR, die Orthopädie orientiert sich am Ebenmaß des Menschen. Matthias Vernaldi bekommt das an seinen Kontrakturen, seinen krummen Knie- und Ellbogengelenken zu spüren. Nachts holt ihn ein Pfleger ab. "Er hatte Schurz und Stiefel aus Gummi an. Ruppig nahm er mich huckepack und schleppte mich in den Keller. Dort zogen auch die Ärzte Gummischürzen über. Ich wurde nackt auf eine Pritsche gelegt und auf den Bauch gedreht. Dann drückten alle Hände im Gipskeller an meinem Körper herum. Ich wurde gerichtet. Erst mit einer Rolle unter den Knien gelang es, meinen Hintern sowie Füße und Beine derart durchzudrücken, dass sie den Vorstellungen der Ärzte entsprachen." Sie formen eine Gipsschale. Ein Negativ des angestrebten Körperideals. Eine halbe Stunde dauert die quälende Prozedur. Abends bindet ihn die Spätschicht an die Form, morgens befreit ihn die Frühschicht. Eine orthopädische Folter, die aus dem Krüppel über Wochen einen ansehnlich geformten Menschen machen soll.
Im Beisein des Chefarztes, eines Wissenschaftlers, den das große Ganze interessiert. Ihm geht es um die Volksgesundheit, als ihm Matthias Vernaldi mit neun Jahren unter das Messer gerät. Unter Äthernarkose zwei Muskelschnitte am Oberarm und am Schenkel bis auf die Knochenhaut. Der Mediziner braucht Muskelgewebe für Forschungszwecke. Das müsse sein, habe er zu Vernaldis Vater gesagt. Wo käme man hin im Sozialismus, wenn jeder nur an sein Kind denken würde? Es gehe um die Erforschung der Muskeldystrophie, habe er der Skepsis seines Vaters erwidert. Er werde es sehen: Sein Sohn werde laufen wie ein Gesunder. "Dieser Herrenmensch brachte alle unsere Eltern dazu, ihre Kinder als Versuchskaninchen preiszugeben", sagt Vernaldi. Die Muskelschnitte bewahrt der Arzt in der Dachstube auf.
Nach sieben Jahren, Matthias Vernaldi ist vierzehn Jahre alt, lässt er die Normalisierungsmaschine in Gotha hinter sich und kommt 1972 in ein Heim der Diakonie für körperbehinderte Kinder. Im Marienstift in Arnstadt begegnet er erstmals anderen Behinderten, die in ihrer Mobilität nicht vollends eingeschränkt sind. Und in Arnstadt begegnet Vernaldi Ideen von einem anderen Leben. Diakonieschüler und bärtige Theologiestudenten transportieren sie in das Heim. Sie bringen Beatmusik mit, tragen Parkas und Jeans. Die Nachwehen der 68er: Vernaldi findet Gefallen an den Stones und an der Vorstellung von Selbstbestimmtheit. Er freundet sich mit Leute an, denen ein DDR-konformer Alltag zuwider ist. Und mit den Jahren in Arnstadt wird es für ihn unmöglich, dem Weg zu folgen, der für Schwerstbehinderte vorgezeichnet ist. Wenn er das Marienstift nach der Schulzeit verlassen muss, bleiben ihm zwei Möglichkeiten: Er kann wie ein Kleinkind ein Leben lang von seinen Eltern gepflegt werden. "Oder du bist mit 18 Jahren in ein Alterspflegeheim gekommen. Wenn du Glück hattest, in die Jugendstation. Da waren die unter Sechzigjährigen." Hellwach dämmern, bis zum Lebensende. "Wir wollten nicht den Rest unserer Zeit sehnsüchtig den Stationsflur hinuntersehen", sagt Vernaldi.
ie entwickeln ein einmaliges Lebenskonzept. Eine christliche Bruderschaft von Behinderten und Nichtbehinderten, die ein selbstbestimmtes Leben als Kommunarden führen. Sie werden ihre 180 Ostmark Renten und Pflegegelder in einen Topf werfen und damit ihre eigenen Pfleger finanzieren. So hebeln sie den Paragrafen 249 aus, der Gesunde wegen "asozialer Lebensweise" mit drei Jahren Knast bestraft, sollten sie es wagen, auf eine zugeteilte Arbeit zu pfeifen. Sie haben eine Immobilie bei Leipzig im Auge, doch die nötige Zuzugsgenehmigung verwehrt der Gemeinderat. "Das kriegt ihr nicht, ihr seid doch schwul, hieß es. Wir waren junge Männer, hatten lange Haare, waren behindert, und das wars dann", sagt Vernaldi. Nur die Kirche kann ihre Dienstwohnungen ohne Zuzugsgenehmigung besetzen. In Hartroda entdecken sie im Juni 1978 einen verlassenen Pfarrhof, Vernaldi ist gerade mal neunzehn Jahre alt. Es ist auch physisch riskant: Er kann zu diesem Zeitpunkt nur noch seine Hände leicht bewegen.
An einem verregneten und kalten Tag 1978 fährt er nach Hartroda. Durch die Scheiben des Trabant seiner Eltern blickt Matthias Vernaldi auf die Agrarsteppe Ostthüringens. Er knattert im Duroplastmobil durch zerfallene Dörfer, tiefe Schlaglöcher in den Straßen, Ödnis. Ein Anstieg, dann das Ortsschild: Wildenbörten, Ortsteil Hartroda, Bezirk Leipzig. In Sichtweite türmen sich die Halden des Uranabbaus der Wismut AG wie versteinerte Bugwellen in die ausgebeutete Landschaft. Keine befestigte Straße gibt es im Ort, keine Post, keinen Laden, keine Bushaltestelle. Am höchsten Punkt steht der Pfarrhof. Der Holzzaun drumherum ist eingedrückt, das Tor hängt schief in den Angeln, von innen kann man durch das Loch im Dach den Himmel sehen. Die Mutter von Matthias Vernaldi ist von dieser Tristesse wenig angetan. Für ihn jedoch ist es ein biblischer Ort, nach allem, was er bisher erlebt hat. Vernaldi ist gerade mal neunzehn Jahre alt.
m Haus fehlen die Dielen. Sie ziehen mit Matratzen, einer Kochplatte und einer Stereoanlage ein. Das Paradies hält täglich Fettbrot, Schwarztee, und Malzkaffee bereit. Für einen wie Vernaldi ist das "die absolute Erfüllung, nicht nur weil das Freiheit bedeutete, sondern auch weil das alles leer war. Wir konnten das mit unseren Träumen füllen."
Ihre spirituelle Sozialisation bei "Halleluja-Terroristen, bei diesen Pneumatikern, Extatikern und Pfingstlern", wie Vernaldi sagt, bestimmt nicht lange das Leben. Anfangs treffen sie sich noch zu Bibelstunden, es gibt Tischgebete und Andachten. Vernaldi predigt, hält später auch Gottesdienste, gibt Konfirmandenunterricht für die Dörfler. Später entstehen Theater- und Diskussionsgruppen, sie protestieren gegen den Uranabbau, wandeln sich von Christen zu Ökos zu Anarchos, durchlaufen die WG-typische Sozialisation der Selbstfindung. Die Abgeschiedenheit, das vermeintliche Unbeobachtetsein und die tatsächliche Freiheit, so zu leben, wie es beliebt, macht die Kommune zum Anlaufpunkt für Andersdenkende, für spätere Oppositionellen, für DDR-Punks, auch für Drogenabhängige, für von der Gesellschaft Ausgespiene, die hier der DDR-Wirklichkeit entfliehen wollen. Die WG ist von der Idee beseelt, den Einzelnen auch in seiner Unfähigkeit zu akzeptieren. Das bringt Probleme mit sich. "Wir waren Versager im Alltag, dreckige Buden, nichts auf die Reihe gekriegt". Vernaldi lacht.
Das Prinzip Selbstversorgung läuft anfangs nur zäh an. Die gezüchteten Hühner sind so klein, dass sie in Einweggläser passen, die Schafe äsen vor Hunger in fremden Vorgärten und werfen Fehlgeburten, aber mit der Zeit bevölkern Leute die Kommune, die die Landwirtschaft in den Griff bekommen. Und auch die Dorfbewohner gewöhnen sich an die schrägen WGler. "Man mag einer dörflichen Gesellschaft höchste Intoleranz vorwerfen. Aber wenn ich mir im Nachhinein überlege, wie sehr wir die Toleranzgrenze überschritten haben, und es ist nie ein Übergriff passiert. Wir waren eine Zeit lang integriert", sagt Vernaldi. Er organisiert, kümmert sich um den Briefverkehr mit Behörden und der Kirche, in der WG nennen sie ihn "Chef", was Vernaldi nicht gerne hört. Der bibelfeste Intellektuelle versteht sich selbst als bedingungsloser Anarchist. Die Behinderten bessern die Gemeinschaftskasse mit selbst gebastelten Postkarten und Linoleumdrucken auf, manche der Pfleger arbeiten als Totengräber. Hartroda wächst, zu Hochzeiten wohnen zwanzig Behinderte und Nichtbehinderte dort, und jedes Jahr feiern sie den Tag ihrer Unabhängigkeit mit einem ausschweifenden Festival.
Dann fällt die Szene in den kleinen Ort ein, bis zu zweihundert Freaks, Friedensbewegte, Ökoaktivisten, Hippies. Denn Vernaldi ist vernetzt auch nach Westdeutschland. Als Schwerstbehinderter darf er zum Klassenfeind reisen. Er baut Kontakte nach Westberlin aus, schmuggelt Cannabis, verbotene Bücher, Infoblätter der Antifa in die Landkommune in Ostthüringen.
Das MfS beobachtet die WGler vom ersten Jahr an. Gegen Vernaldi und zwei weitere Bewohner eröffnet die Staatssicherheit den Operativen Vorgang "Parasit". Begründung: "Seit ihrem Bestehen entwickelt sich die Gruppe in Hartroda zu einem Anlaufpunkt für negativ-klerikale Kräfte, Homosexuelle, Asoziale, Haftentlassene und sogenannte ,Aussteiger'." Sie habe sich "zu einem Verbreiter pazifistischen Gedankengutes und aktivem Befürworter und Unterstützer einer nichtstaatlichen Friedensbewegung entwickelt". Des Weiteren "verfügt die Gruppe über ein weitverzweigtes Verbindungsnetz innerhalb der DDR zu negativ-klerikalen Kräften, die größtenteils operativ bearbeitet werden." Weiter heißt es: "Der Kopf, Initiator und Inspirator dieser Gruppe ist der Schwerstgeschädigte Matthias Vernaldi, der ständig an den Rollstuhl gebunden ist, jedoch über sehr gute und ausgeprägte geistige Fähigkeiten verfügt. V. ist als Hilfsprediger angestellt und als Korrespondent der kirchlichen Zeitschrift Glaube und Heimat tätig. Da seine Artikel jedoch ständig einen die Verhältnisse in der DDR diskriminierenden Charakter tragen, erfolgte bisher noch keine Veröffentlichung."
In den MfS-Akten finden sich exakt gezeichnete Grundrisse, Fotos, Kopien des Adressbuchs von Vernaldi, seitenlange Listen mit Personenbeschreibungen und Angaben zu den Besuchern von Hartroda. Im November 1985 hält die Stasi fest: "Musikgruppe ,Tote Hosen' aus der BRD wollen im Mai/Juni 86 in Hartroda auftreten."
Das MfS und seine Zuträger spähen die Kommune noch bis nach dem Mauerfall aus. Der letzte Bericht stammt vom 24. Oktober 1989. Über Vernaldi steht da: "Die OV-Person äußerte, dass sie für eine Wiedervereinigung Deutschlands sei. Er wertete, dass noch mehr ,Betonköpfe' zurücktreten müssten. In diesem Zusammenhang nannte er den Namen Erich Mielke."
Hauptzuträger ist IM "Dr. Walther". Der Mann ist sich 1979 noch sicher: "Vielleicht brauchen wir gar nicht soooo viel zu unternehmen, allenfalls der Kirche ein wenig behilflich sein, um diese Läuse aus ihrem Pelze zu entfernen." Doch die Leitung der Thüringer Landeskirche ist gespalten. Oberkirchenrat Johannes will noch 1985 aus Hartroda ein Modellprojekt für Behinderte machen. Er stößt auf Widerstand. Die Stasi zitiert die Einschätzung des Kirchenrats Kirchner: "Diese Bürger stellen sich durch ihr Verhalten außerhalb der Kirche und der Gesellschaft. Das einzig richtige wäre, wenn diese Bürger wieder in ein Pflegeheim kämen, weil sie dort ihre Ordnung hätten. Die Kirche wird sich nicht vor diese Bürger stellen. Durch die Kirche wird es im Falle staatlicher Maßnahmen keine Aktivitäten geben." Beide Kirchenmänner werden später als IMs enttarnt. Immer wieder gibt es Vermittlungen zwischen Vernaldi und der Kirchenleitung. Dies wird auch nötig, weil der neue Pfarrer im Ort die Kommune gängelt und Vernaldi regelmäßig anschwärzt. Er sieht in ihm eine unorthodoxe Konkurrenz, verbietet Vernaldi, zu predigen. In einem Brief kritisiert er die "Befürwortung eines überspitzten Autonomiestrebens". Die Landeskirchenleitung lehnt Vernaldis Wunsch, sich ordinieren zu lassen, ab. Er könne ja nicht mal die Abendmahlsgeräte halten. Das MfS bewertet den Ortspfarrer als "für die operative Nutzung geeignet". Die gleiche Einschätzung gilt dem IM "Dr. Walther", Klarname: Dr. Beutel. Er ist Vertrauensarzt der WG und viel mehr noch: ein Freund, über mehr als ein Jahrzent.
us den Berichten der Stasi spricht ein voyeuristisches Fasziniertsein durch das "Abnorme". "Dr. Walther" schreibt Vernaldi noch Briefe, die folgendermaßen enden: "Empfehlen Sie mich, bitte, Ihren mir leider noch unbekannten Eltern und sagen Sie Ihrer guten Schwester Maria viel Freundliches von mir." Der Stasi protokolliert Beutel: "In Hartroda wohnte ich dem Bade von Matthias bei. Er wurde ein wenig gewaschen, auch die Haare shampooniert, aber sonst nur eingewischt. Das Gesäß und die Genitalien wurden nicht versorgt. Wie hilflos Matthias ist, was für ein Fettkloß ohne Muskeln!" Als Vernaldi in der Vorwendezeit Kontakte zu Oppositionellen der Zionskirche in Ostberlin unterhält und über ein Postfach Informationen erhalten kann, teilt "Dr. Walther" dem MfS im Juni 1989 mit: "Ich machte Vernaldi darauf aufmerksam, dass ich alle vier bis fünf Wochen in Berlin sei und dann gern die Zeitschriften mitbrächte. Allerdings bräuchte ich dann jemanden, der mich dort als vertrauenswürdig einführe?. Ich bin begeistert bis skeptisch. Es böte sich uns hier die Möglichkeit, an das neuste Umwelt- und Untergrundmaterial herankommen und es kopieren zu können. Bekomme ich die finanziellen Unkosten für diese Fahrten auch von der Dienststelle ersetzt, so tritt doch ein zusätzlicher Verschleiß für den Wagen ein. Es wäre also zu erwägen, wie ich materiell entschädigt werden könnte."
Vernaldi begegnet "Dr. Walther" heute noch in Berlin. In seinen Träumen. 1994 verlässt Matthias Vernaldi nach sechzehn Jahren die WG in Hartroda und zieht nach Westberlin.
Er ist jetzt 49 Jahre alt. Sein Lebenskonzept heute heißt ambulante Hilfe, er bezahlt seine Assistenten, die ihn im Alltag unterstützen. "Ich bin jetzt an dem Punkt", sagt er "der in der Medizin als finales Stadium bezeichnet wird. Also jetzt kann ich mich wirklich nicht mehr rühren." Alle seine Freunde mit Muskeldystrophie hat er überlebt. Vernaldi führt dies auf sein selbstbestimmtes Leben zurück. Den Mut, den ein Mensch wie er für diese Freiheit braucht, konnte er nur in der Praxis lernen. Hartroda war der Anfang. An der Wand seines Wohnzimmers in Neukölln hängt ein Plakat: "Laufen wollt ich, doch man gab mir Flügel."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid