Begegnung mit einer Enkelin: "Für die Sache muss man ja alles machen"
Eine Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme fragt, wie sich an den Holocaust erinnern lässt, wenn keine Zeugen mehr leben. Appelle zu ethischem Handeln werden das Gedenken ablösen, glaubt die Enkelin Yael Fried.
HAMBURG taz | "Doch, es war ganz schön gestern - weniger Leute da, als ich gedacht hatte." Man kommt ja auch schlecht dorthin, in die KZ-Gedenkstätte Hamburg-Neuengamme. Außer Schulklassen in großen Bussen scheinen nicht so viele an diesen abgelegenen Ort zu fahren. Erst recht nicht für eine Ausstellungseröffnung; hätte man den Gedenk-Ort bloß seinerzeit etwas zentraler, citynah gebaut. "Es war schwierig. Ein Fotograf bat meine Großmutter, dort hinten, neben den Gleisen zu posieren - Hand hier, Haar da, Blick nach links vorne - meine Großmutter wollte das eigentlich nicht, aber für die Sache muss man ja alles machen", sagt Yael Fried.
Was ist denn die Sache? Die 31-Jährige, Museumspädagogin in Stockholm und Enkelin von Hedi Fried, 87, die ich in Neuengamme treffe, begleitet ihre Großmutter in letzter Zeit oft auf ihren Reisen, die der Aufklärung dienen: Holocaust, Völkermord - never again! Dabei gilt es immer dringlicher die Frage zu beantworten: Was tun, wenn alle Überlebenden gestorben sind? Wie die Botschaft dann noch weitergeben?
Auch die jüngst in der Gedenkstätte eröffnete Fotoausstellung "Generationen - KZ-Überlebende und die, die nach ihnen kommen" befasst sich mit dieser Staffelübergabe. Sie dokumentiert alt gewordene Menschen an Orten, die sie als grauenhaft verinnerlicht haben. Sie dokumentiert deren Kinder, Enkel - oder auch mal eine Krankenschwester an ihrer Seite. Doch sie alle können nur ahnen, was hinter und zwischen den Steinen, Mahnmalen, Grasschollen geschah.
Wie also sollen die Enkel die Botschaft weiterreichen - und welche Botschaft überhaupt? "Das stimmt wohl leider, es geht nicht so sehr um die Erinnerungen, um das Gedenken, sondern um die Sache", sagt Yael Fried. "Es geht um politische Erziehung, um Mündigkeit."
Das klingt fast ein wenig schuldbewusst angesichts der Tatsache, dass es nicht nur um die Erinnerungen ihrer Großmutter gehen soll, und dennoch: "Es ist ja sogar so, dass viele Überlebende die Fakten durcheinander bringen. Dass sie Geschichten erzählen von Orten und Menschen, von Zahlen und Daten, die so gar nie hätten sein können."
Genau deshalb sei es wichtig, fährt sie fort, dass man Zeitzeugenberichte auch als solche behandle: als Quellen, aber nicht als historische Dokumente. "Meine Großmutter wird mir sicherlich widersprechen, wenn ich dies sage, aber ich denke, es geht mehr um eine Einstellung, die wir vermitteln müssen, als um Erinnerungen. Die können wir nutzen, solange diese Menschen noch leben. Später wird es darum gehen, das Projekt ,Never again' voranzutreiben, und dabei professionell zu arbeiten", sagt Yael Fried.
Will sagen: Die Zeitzeugenberichte müssen mit historischen Dokumenten unterfüttert werden. Zudem müsse man, findet sie, ein didaktisches Konzept entwickeln, das auf eine Ethik künftigen Handelns ziele und an die nachfolgenden Generationen appelliere, sich als gesellschaftspolitisch mündige Bürger zu artikulieren.
"Wenn man richtig an die Sache herangeht, funktioniert es", weiß Yael Fried. Inzwischen sitzen wir auf einer Bank in der Sonne vor Schotterhaufen im ehemaligen KZ Neuengamme, die während des "Dritten Reichs" Baracken waren. Gerade haben wir noch ein Foto gemacht: Es zeigt die Enkelin, wie sie auf ein riesiges Foto ihrer Großmutter schaut, das in der Ausstellung hängt. Jetzt sind wir wieder draußen. Und wo die Menschen damals dicht gedrängt zusammen gezwungen wurden, erstreckt sich nun eine riesige Fläche, fast möchte man sagen: die am besten gepflegte Parklandschaft in den Vierlanden.
Aber Yael Fried kann auch plötzlich mutlos werden, wenn sie über Vermittlung an die junge Generation spricht: "Bei uns in Schweden hat es kürzlich eine Umfrage gegeben. Ihr zufolge wissen sehr viele Schüler heutzutage gar nicht, was Demokratie ist. Sie finden, dass auch eine Diktatur in Ordnung wäre - einzig und allein, weil sie das Wort ,Diktatur' irgendwie schick finden", sagt sie. Was die Begriffe bedeuteten, wüssten die Schüler nicht. Ein schweres Versagen der Vermittler, findet sie.
Yael Fried sieht den Holocaust dabei weniger als Teil der deutschen, als vielmehr der jüdischen Geschichte. Denn es gehe ja um Juden. Allerdings ist ihr dabei wichtig, dass das Problem nicht die jüdischen Opfer, sondern die antisemitischen Täter sind.
Eine komplizierte Debatte, die feinfühlig geführt sein will, vorsichtig müssen meine Fragen sein, akribisch die Notizen, die ich von Yael Frieds Antworten mache. Zwei Frauen in den Dreißigerin, wohlgenährt, gut ausgebildet, global interessiert und informiert, sitzen wir auf einer Bank - da, wo ehemals Elend herrschte. Mühsam gewöhnen wir uns an den Gedanken, dass sich mit dem Sterben der Überlebenden der Fokus wohl verschieben wird: weg von der Einzigartigkeit dieses Genozids, und hin zu einer grundsätzlichen Aufforderung zu ethischem, verantwortungsbewusstem Handeln.
Und so wenig Yael Fried den Holocaust mit der Verfolgung der Kommunisten unter Stalin vergleichen möchte, so sehr sie betont, dass politische Verfolgungen nicht dasselbe sind wie die Verfolgung von Juden - ja: So wenig wir zu definieren wagen, was wir mit "den Juden" denn meinen: eine Volksgruppe, eine Religionsgemeinschaft, eine ethnische Gruppe - so überzeugt sagt Yael Fried schließlich: "Kambodscha! Was weißt du über Kambodscha? Wir wissen darüber viel zu wenig. Und falls jene Menschen für europäische Erfahrungen empfänglich sind, falls sie es wünschen, kommen wir gern zu ihnen, um das Projekt ,Never again' gemeinsam zu befördern."
Ausstellung "Generationen. KZ-Überlebende und die, die nach ihnen kommen" mit 25 Fotos von Mark Mühlhaus: bis 30. Oktober, KZ-Gedenkstätte Hamburg-Neuengamme sowie vom 9. bis 13. November im Hamburger Gängeviertel und ab 27. Januar 2012 in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?