Becketts Briefe: Der Gott der Lästerer
15.000 Briefe schrieb Samuel Beckett, eine Auswahl wird jetzt veröffentlicht. Im ersten Band zeigt Beckett sich als reflektierter Beobachter Nazideutschlands.
Als Samuel Beckett vom September 1936 bis zum März des nächsten Jahres durch Deutschland reiste, machte er sich minutiöse Notizen in ein kleines Heft, die er abends detailliert ins Tagebuch übertrug. Das kostete Zeit, und wenn man bedenkt, was für ein passionierter Briefeschreiber er war, kann man sich vorstellen, welche Schreibmengen er pro Tag absolvierte. Er hatte mit „Murphy“ gerade seinen ersten großen Roman abgeschlossen, literarisch ging es nicht so richtig weiter. Auch deshalb wollte er aus Irland weg. Dass er Deutschland im tiefsten Winter bereiste, hellte seine Stimmung nicht wirklich auf.
Die Reise führt ihn von Hamburg über Hannover und Braunschweig nach Berlin, und von dort über Leipzig und Dresden nach München. Er ist fünf Monate unterwegs, kränkelt ausdauernd und hätte gerne mehr mit Frauen zu tun. In Hamburg zum Beispiel besucht er ein Konzert der Berliner Philharmoniker, an seiner Seite sitzt eine gewisse Ilse Schneider. Dass von ihr ein klares „Nein“ kam, erfährt man in den Tagebüchern des damals 30-Jährigen, die James Knowlson für seine 1996 publizierte Beckett-Biografie auswertete.
Jetzt, da auch im deutschsprachigen Raum eine Edition von Beckett-Briefen startet, rundet sich das Bild allmählich. Der Dichter des Verstummens war, man glaubt es kaum, als Briefeschreiber ein wahrer Titan und hinterließ mehr als 15.000 Briefe. Wollte man sie alle zugänglich machen, würde das mindestens zwanzig Bände füllen.
Im ersten der Band auf vier Bände angelegten Ausgabe erfährt man für die Jahre von 1929 bis 1940, was ihn so umtrieb. Während seiner Deutschlandreise ist das vor allem die Kunst. Viele der Briefe gleichen essayistischen Exkursen zur Kunstgeschichte. Die meisten sind an den engsten Freund gerichtet, den irischen Dichter, Kunst- und Literaturkritiker Thomas McGreevy.
Wortspieler mit vielen Gebrechen
Beckett ist aber auch ein begnadeter Wortspieler, zitiert und persifliert klassisches Bildungsgut, tratscht und lästert, berichtet von seiner Goethe-Lektüre und immer wieder detailliert von all seinen körperlichen und seelischen Gebrechen, angefangen von der Darmfistel bis hin zur depressiven Verstimmung. Eine durchgehende Begleitmelodie seiner Winterreise ist die Ablehnung seines Romans durch die Verleger im englischsprachigen Raum. Sie reagieren auf „Murphy“ verständnislos, verunsichert oder verhalten begeistert.
Beckett wiederum ist in den Briefen an seinen Agenten George Reavey zu Tode gekränkt oder kompromisslos fordernd, dann wieder entmutigt und zu allen Konzessionen bereit. Am Ende der Reise will er noch in den Südwesten Deutschlands nach Freiburg. Das lässt er aber bleiben: „Ich bin müde und sehe nichts mehr, alle Oberflächen bleiben Oberflächen, und das ist schrecklich“, schreibt er in einem Brief kurz vor der Rückreise nach Foxrock in der Nähe von Dublin, wo er sich kurzfristig wieder der familiären Enge fügt.
Es war nicht seine erste Deutschlandreise, und er war nicht so entspannt wie in den Jahren zuvor, als er noch in Peggy Sinclair verliebt war und vornehmlich nach Kassel reiste, wo die Cousine mit ihrer Familie lebte. Sie ist inzwischen verstorben, also besucht er jetzt alle greifbaren Kunsthallen, Museen und Privatsammlungen, als gelte es, das kulturelle Erbe des Abendlandes kurz vor seinem Verschwinden im Orkus des Dritten Reiches zu besichtigen.
Sarkastisches über Furtwängler
Sarkastische Bemerkungen in Richtung des naziaffinen Wilhelm Fürtwängler („der, wie es aussieht, den edelsten Teil seiner Blöße neuerdings mit ineinander verflochtenen Hakenkreuzen bedeckt“) zeigen, was für ein politisch reflektierter Zeitgenosse unterwegs war. Das mit den Hakenkreuzen schrieb Beckett an den Cousin Morris Sinclair, dem er zeit seines Lebens eng verbunden war.
Für die Aufnahme solcher Zeilen in die Brief-Edition kann man den Herausgebern George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck danken. Sie hatten die Qual der Wahl und mussten Becketts Diktum beachten: Bitte erst posthum und nur die für mein Schaffen wichtigen Briefe!
Dass von seinem Tod im Jahr 1989 bis zum Erscheinen des ersten Briefbandes zwanzig Jahre vergehen mussten, hat sicherlich mit komplizierten Ausleseprozessen zu tun. Man stand aber wohl auch vor der nicht wirklich zu entscheidenden Frage, was sich bitte auf das literarische Werk und was auf Becketts Privatleben bezieht.
Am Ende der Brief-Edition wird man einen Überblick über sechzig Jahre Korrespondenz haben. Im ersten Band fällt auf, das sich auf den mehr als 800 Seiten kaum weibliche Briefpartner finden. Und das, obwohl Beckett sicherlich mit Peggy Sinclair korrespondierte, die eine Quelle der Inspiration für manch kapriziöse Frauenfigur seiner Romane war.
Literarische Miniaturen
Im Vorwort zur Edition steht, man habe sich am Ende auf 2.500 Briefe verständigt, aus weiteren 5.000 werde zitiert. Natürlich würde man nun gerne wissen, warum welche weggelassen wurden und ob ein so voluminöser Anmerkungsapparat wie im ersten Band notwendig war. Auf der anderen Seite ist da aber immer noch so viel Originalmaterial und das ist so reich an literarischen Miniaturen, dass Nichteingeweihte leicht die Übersicht verlieren können.
Gliedern kann man das erste Brief-Jahrzehnt in eine Zeit der literarischen Selbstfindung von 1929 bis 1936. Auf diese Zeit einer erwartungsvollen Ausweglosigkeit folgt die Deutschlandreise und eine kurze Rückkehr nach Irland. Anfang Oktober 1937 lässt Beckett sein Elternhaus endgültig hinter sich und will in Paris Fuß fassen. Den entscheidenden Brief an McGreevy, in dem er schreibt, „es ist eine große Erleichterung für mich, von zu Hause wegzukommen, wo die Position zwischen Mutter und mir unmöglich geworden ist“, kann man in Knowlsons Biografie nachlesen. In der Brief-Edition fehlt er.
Bis dahin liebäugelte Beckett noch mit einer universitären Karriere. Die Entscheidung für Paris ist verbunden mit der eindeutigen Wendung hin zur literarischen Autorenschaft – und siehe da, plötzlich kommt auch die Nachricht, der Londoner Verlag Routledge habe „Murphy“ angenommen. Seine Reaktion im Brief an Reavey: „Meine Kinder, der Gott der Lästerer segne Euch, bis die Zeit kommt, dass der Lästerer der Götter Euch fürstlich bewirten kann.“
Wie immer ist Beckett in großer Geldnot. James Joyce bietet sich an, dem er schon einmal wie ein Privatsekretär verbunden war. Aber, so schreibt er an McGreevy: „Joyce hat mir 250 F für etwa 15 Stunden Arbeit an seinen Fahnen bezahlt. Das ist, wie ich nicht betonen muss, nur für deine Ohren bestimmt. Er stockte die Summe dann mit einem alten Mantel und 5 Krawatten auf. Ich habe nicht abgelehnt. Es ist viel einfacher, sich verletzen zu lassen, als andere zu verletzen.“
Kneipennächte mit Peppy Guggenheim
Dagegen steht: Beckett ist endlich angekommen und stürzt sich in ein turbulentes Jahr 1938. Mit Peggy Guggenheim zieht er durch die Kneipen, wird durch einen Messerstich verletzt und ist mit Joyce wieder versöhnt, weil der ihm im Hospital ein Privatzimmer besorgt. Und auch ansonsten geht es aufwärts. Er soll de Sades „120 Tage von Sodom“ ins Englische übersetzen, was er im Gegensatz zu den Ringelnatz-Gedichten, die ihm kurz davor vom Rowohlt-Verlag zur Übersetzung angeboten worden waren, auch tun will.
Vor allem aber: Er beginnt auf Französisch zu schreiben, lernt seine spätere Frau Suzanne Georgette Anna Deschevaux-Dumesnil kennen und verlässt mit ihr kurz nach dem Einmarsch deutscher Truppen Paris.
Mit Thomas McGreevy war es zu einem kurzfristigen Zerwürfnis gekommen, im April 1939 finden sie aber wieder zueinander. Beckett schreibt: „Ich bin diese Woche 33 geworden & frage mich, ob die zweite Hälfte der Flasche besser wird als die erste.“ Zu diesem Zeitpunkt sollten noch sechzig Lebensjahre und schätzungsweise 12.000 Briefe vor ihm liegen.
Samuel Beckett: „Weitermachen ist mehr, als ich tun kann. Briefe 1929-1940“. Herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck. Übersetzt und eingerichtet von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 856 Seiten, 39,95 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen