Beate Klarsfelds Ohrfeige: Erziehung zur Mündigkeit
Peter Hintze von der CDU spricht vom „destruktiven Charakter“ der Personalie Klarsfeld. Dabei wurden schon in der Antike Sklaven mit einer Ohrfeige in die Freiheit entlassen.
„Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.“ Wer Filippo Marinettis „Futuristisches Manifest“ aus dem Jahr 1909 nachliest, kann in der Nominierung von Beate Klarsfeld zur Bundespräsidenten-Kandidatin der Linkspartei doch mehr sehen als einen gezielten Schlag ins Gesicht des Polit-Establishments: Gegen das Vergessen!
Der Schriftsteller Thomas Hettche, Autor eines Romans über „Die Liebe der Väter“, geißelte die verpönte Strafmaßnahme einmal als „Ausdruck der Verzweiflung“. Im Lichte des Aufrufs der kühnen Himmelsstürmer vom Beginn des letzten Jahrhunderts wird aus dem Retro-Signal Klarsfeld (Sixties, Vergangenheitsbewältigung, Prügelstrafe) aber ein Zeichen des Aufbruchs, der Grenzüberschreitung, ein später Triumph der Avantgarde.
Nur ein kulturgeschichtlicher Ignorant wie Peter Hintze von der CDU kann vom „destruktiven Charakter“ der Personalie Klarsfeld sprechen. Schließlich wurden schon in der Antike Sklaven und im Mittelalter Lehrlinge mit einer Ohrfeige in die Freiheit entlassen: der Backenstreich als Erziehung zur Mündigkeit. Den Futuristen ging es darum, eine noch größere Schwelle zu überschreiten. Begnügten sich die Situationisten sechzig Jahre später mit so etwas Ungenauem, wie „Momente“ und „Situationen“ herzustellen, in denen das Leben zum Kunstwerk wird, sollten die futuristischen Handreichungen „die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen“.
Das unscharfe Historienbild vom November 1968, als Klarsfeld den CDU-Kanzler Kiesinger öffentlich ohrfeigte, verwandelt sich da in den somatischen Anstoß zur Gesellschaftsveränderung. Egal, ob man nun Anhänger des „Rucks“ ist, mit dem Roman Herzog in ein neues Deutschland durchstarten wollte, oder ob man Gesine Lötzschs „Wege zum Kommunismus“ bevorzugt.
Überhaupt ist das heikle symbolische Kapital Ohrfeige anschlussfähiger, als man denkt. Kulturwissenschaftler dürften jubeln, wenn eine Expertin für symbolisches Handeln und Performance an die Staatsspitze rückt. Während die große Koalition für „Mehr Mut zur Erziehung“ eher das Handfeste der Geste schätzen dürfte. Die christsoziale Kultur hängt am Institut der Backpfeife ebenso wie die tätige Antifa. Joachim Gauck hat nur Charisma. Beate Klarsfeld geht den Weg vom Symbol zur Tat. Da schrumpft das symbolische Kapital des Übervaters, den viele mit dem Einzug des ostdeutschen Protestanten ins verwaiste Schloss befürchten, auf die Größe einer rhetorischen Kopfnuss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken