Bayerischer Wald: Hinter den sieben Bergen
Nirgendwo hält das Schneevergnügen länger als im Bayerischen Wald. Ein Winterausklang zum Frühlingsanfang.
Dem Ende des Kalten Krieges folgte die Wiederentdeckung Mitteleuropas. Der Eiserne Vorhang hatte jahrhundertealte Verbindungen gekappt und einst belebte Regionen im Herzen des Kontinents zur Peripherie verkümmern lassen. So auch im Böhmerwald, zu dem der Bayerische Wald geografisch gehört. Nun nähern sich die getrennten Sphären wieder vorsichtig einander an. Im Sommer sind es die Wanderwege, im Winter die Loipen, die dieses steinalte Gebirge im Dreiländereck von Deutschland, Tschechien und Österreich unmerklich zusammenzurren, die uns im steten Wechsel von Hinüber und Herüber wieder eine Ahnung geben von jenem Austausch, der hier früher normal war, dann aber bei Todesstrafe verboten.
In Begleitung zweier Waldführer – ehrenamtlicher Mitarbeiter des Nationalparks, die rund ums Jahr Exkursionen anbieten – geht es auf Skiern zu einer Grenzerfahrung der besonderen Art. Wer will, kann zum Aufwärmen eine Runde auf der Dreikönigsloipe drehen, einer der klassischen Routen am Ostrand des Parks. Langlauf ist Bewegungsmeditation: stilles Gleiten durch tief verschneiten Märchenwald, im Wechsel mit stoischem Steigen und rauschhafter Beschleunigung.
Mal führt die Spur zwischen kissenartig übereinandergestapelten Granitfelsen dahin, mal an einem Bach entlang, der sich durch pralle Schneepolster schlängelt. Die Bäume stehen wie mit Zuckerwatte überzogen. Tierspuren queren den Weg: von Baummardern und einem Hasen. Und stößt man gar auf eine Kette tellergroßer Stapfen, so hat ein Luchs dort sein Revier. Drüben in der Šumava, dem tschechischen Teil des Böhmerwaldes, kann es auch zu Begegnungen der dritten Art kommen – wenn unvermutet ein Elch an der Loipe steht.
Von Finsterau aus führt die Langlaufwanderung dann hinüber nach – ja, wohin? Bis in die dreißiger Jahre hätte es auf Deutsch geheißen: hinüber nach Buchwald, und auf Tschechisch nach Bučina. Oder ins benachbarte Fürstenhut/Knížecí Pláně. Buchwald zählte damals rund 350 Einwohner, Fürstenhut über 500. Doch von beiden Ortschaften ist so gut wie nichts geblieben.
Anreise
Von Plattling fährt die Waldbahn nach Zwiesel, Grafenau und andere Gemeinden. Mit dem Auto fährt man entweder über Nürnberg und Amberg und dann die B 85 gen Osten oder auf der A3 über Regensburg entlang der Donau, dann auf diversen Bundesstraßen in den Bayerischen Wald. Von München her auf der A 92 bis Deggendorf, dann weiter auf der B11.
Unterkunft
Hotel zur Waldbahn, Zwiesel. Familienbetrieb in der fünften Generation, bei Gästen wie bei Einheimischen populär. Außerdem: Delikate, ideenreiche Küche. www.zurwaldbahn.de.
Landgasthof Euler, Neuschönau. Traditionsreiches Gästehaus, das eine feine Balance zwischen Lokalkolorit und zeitgemäßer Ausstattung hält. Direkt an zwei Hauptattraktionen gelegen, dem Nationalparkzentrum mit Wildgehege und dem Baumwipfelpfad. www.landgasthof-euler.de.
Essen und Trinken
D’Ehrn, urige Wirtschaft im exzellenten Freilichtmuseum Finsterau mit authentischer Böhmerwaldküche und gutem Geist. www.ehrn.de, www.freilichtmuseum.de
Schwellhäusl, im Wald bei Zwieslerwaldhaus. Die frühere Trifter-Klause bildet seit ungefähr 150 Jahren ein unverwüstliches Ausflugsziel, www.schwellhaeusl.de.
Kulturprogramm
Viele Glashütten bieten Besichtigungen und Werksverkauf an, daneben gibt es ein zentrales Glasmuseum, www.glasmuseum-frauenau.de.
Besonders sehenswert ist das private Museum der Glasmanufaktur Theresienthal, www.theresienthal.de. Das stilvolle Museum „Stifter und der Wald“ bringt den Besuchern nicht nur Leben und Werk des „größten Landschaftsmalers der Literatur“ näher (Hannah Arendt), sondern auch die Kulturgeschichte der Region. Die zünftigen Theaterwanderungen erfreuen sich großer Beliebtheit, www.neureichenau.de.
Zeitreise für Cineasten
In den Kleinstädten gibt es noch einige tapfere Familienkinos, etwa in Zwiesel und Viechtach. www.filmtheater-zwiesel.de, www.kino-viechtach.de.
Auskunft
Für alle Fragen, auch zum geführten Wandern: Ferienregion Nationalpark Bayerischer Wald, Spiegelau, www.ferienregion-nationalpark.de.
Wie rund hundert Böhmerwalddörfer entlang der Grenze wurden sie in den fünfziger Jahren dem Erdboden gleichgemacht. Den vertriebenen deutschstämmigen Bewohnern sollte die Rückkehr unmöglich gemacht werden, den verbliebenen tschechischen die Flucht. Nur die Keller sind noch da. Auch die meisten Friedhöfe wurden eingeebnet; in Fürstenhut blieben zumindest Reste erhalten, die nach der Wende wieder freigelegt wurden. Wo die Kirche stand, markiert ein wuchtiges Kreuz die Leerstelle.
Es ist eine schaurig-schöne Tour, den Gipfel des Lusen zur Linken, die Quelle der Moldau zur Rechten. Schaurig, weil sie vor Augen führt, wie die Politik sich hier in all ihrer Selbstsucht, Bösartigkeit und Ignoranz über die Topografie ebenso hinweggesetzt hat wie über die Kultur, indem sie acht Jahrhunderten gemeinsamer Geschichte den Garaus gemacht hat.
Schön, weil sie etwas Verwunschenes und Romantisches hat, weil die tschechische Seite eben wegen der rabiaten Entvölkerung noch wehmütiger, noch einsamer wirkt als die deutsche. Die alten Rodungen sind weitgehend zugewachsen, doch hie und da zeugen Steinmauern mitten im Wald, freistehende Hutebäume oder Alleen im Nirgendwo noch von dieser erzwungenen Wandlung zur Wildnis.
Waldführer Hans Meier fischt Fotografien aus der Vorkriegszeit aus seinem Rucksack. Sie zeigen eine parkartig offene Kulturlandschaft, die noch ausschließlich mit Nutztieren und in händischer Arbeit bewirtschaftet wurde. Welcher Kontrast zu den martialischen Grenzanlagen aus dem Kalten Krieg, von denen neben dem neuen „Hotel Alpenblick“ ein kurzer Abschnitt nachgebaut worden ist, mit Wachturm, stählernen Straßensperren und Hochspannungszaun. Meier ist selbst unweit der Grenze aufgewachsen; die Sprengung des Fürstenhuter Kirchturms hat er bis heute im Ohr. „Die Explosion war meilenweit zu hören, aber wir wussten erst nicht, was da geschehen war.“
Das alte Hotel, erklärt seine Kollegin Claudia Barthmann, stammte noch aus den Pioniertagen des Fremdenverkehrs. Schon um 1830 kamen Ausflügler bis von Wien, um im Panorama zu schwelgen. Tatsächlich bieten sich gerade im Winter Fernblicke wie im Märchen. Sanft verebben die mehr als sieben Berge des Bayerischen Waldes, dann schwebt ein Nebelband über dem Donautal, und scheinbar unmittelbar dahinter zieht sich die alpine Skyline vom Dachstein bis zum Watzmann hin.
Die beiden Gebirge korrespondieren miteinander, der Veteran aus dem Erdaltertum mit den J ungen Wilden. Wartet nur ab, spricht er zu ihnen. Denn vor dreihundert Millionen Jahren ragte der Böhmerwald ebenso hoch auf wie die Alpen heute. Sie können sich also auf einiges gefasst machen. Sie dürften allmählich sanfter werden, weicher – und stiller. So still wie der Böhmerwald heute. Wo sich Rücken hinter Rücken reiht, so dass er selbst von seinen höchsten Punkten aus nie ganz zu überblicken ist. Wo der Wald die Hänge wie ein zotteliges Fell vermummt. Wo noch der nichtigste Laut zur Sensation wird.
Diese gebieterische Stille hat keiner so eindringlich geschildert wie Adalbert Stifter, der den Zauber seiner Heimat durch sein ganzes, oft schmerzlich-schwermütiges Leben hindurch beschworen hat. Heute kann er bei der Rückgewinnung des gemeinsamen Kulturerbes gute Dienste leisten. Er wuchs in Oberplan am Nordhang des Gebirges auf, tschechisch Horní Planá. In Oberösterreich hat er gewirkt, und die Ferien hat er am liebsten im Bayerischen Wald verbracht, im Rosenberger Gut in der Gemeinde Neureichenau, die ihm ein kleines, poetisches Museum gewidmet hat. Zu seiner Zeit war der Böhmerwald ein Ganzes. Ob ihre Ortschaft nun in Bayern, in Österreich oder in Böhmen lag – die Bauern hatten untereinander mehr gemeinsam als mit den Bewohnern ihrer jeweiligen Hauptstädte, mit München, Wien oder Prag.
Eine seiner eindrucksvollsten Erzählungen schildert einen dreitägigen Schneesturm im Bayerischen Wald. „Das war kein Schneien wie sonst, sondern wie wenn Mehl vom Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder empor, er strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort. Und wenn man vom Fenster wegging, sah man es im Geiste, und man ging lieber wieder zum Fenster.“
Winterlust im Wald
Tatsächlich ist der Winter eine Domäne des Bayerischen Waldes. In den Statistiken hängen die hiesigen Dörfer die Alpengemeinden regelmäßig ab, sowohl bei den kältesten Temperaturen wie bei der Dauer der Schneebedeckung. Was früher ein Manko war, gerät dem Standort heute zum Vorteil: Schneesicherheit und über hundert Tage Skisaison. Noch jetzt, Mitte März, prunken die höheren Lagen mit anderthalb Metern Schnee.
Robert Schmid, Ranger
So ist er denn auch die Destination der Wahl für Schnee-Enthusiasten, die ein wollüstiges Verhältnis zur Kälte besitzen, für Abfahrtsmuffel, denen der Skizirkus auf die Nerven geht, für Allergiker, die ihre Niesattacken hinauszögern wollen, und für die Bewohner der norddeutschen Tiefebene, denen die Sensationen des Winters zusehends abhanden kommen.
Gemeinsam mit einer Handvoll Kollegen durchstreift Robert Schmid den sogenannten Zwieseler Winkel als Wald- und Wildhüter, Neudeutsch Ranger. Er kennt die Wälder rund um den Falkenstein noch aus der Zeit, als sie dem Forstamt Zwiesel unterstanden. 1997 wurden sie dann dem Nationalpark einverleibt, und die Angestellten des Forstamtes gleich mit. Im Winter unternimmt er Patrouillengänge auf Schneeschuhen.
Das wilde Herz
Diesmal steigt er hinauf zum Lindberger Schachten; zwei Urlauber, die ihn eigentlich nur nach dem Weg fragen wollten, haben sich ihm angeschlossen. Breitbeinig stapfen sie mit Schuhgröße 114 dahin, jeder ein Yeti. „Früher geschah die meiste Waldarbeit im Winter“, erzählt Schmid, „da brachte man das Holz per Schlitten zu Tal.“
Es war eine anstrengende und gefährliche Arbeit, doch immer noch leichter als im Sommer. Die letzten dieser legendären Schlittenzüge hat er in den achtziger Jahren noch miterlebt. Mit der Schneeschmelze wurde das Holz dann über die Bäche bis Regensburg und Passau geschwemmt.
Heute wird nichts mehr aus dem Nationalpark entnommen. Was stirbt, bleibt stehen, was fällt, bleibt liegen. Diesen Winter hat der Schneedruck besonders viele Bäume zum Bersten gebracht. Mächtige Äste, ja ganze Kronen liegen kreuz und quer im Wald, abermals von Schneekissen bedeckt.
Nach anderthalb Stunden öffnet sich eine große, langgezogene Lichtung. Ein Schachten, wie die einstigen Waldweiden heißen, auf die das Vieh über Jahrhunderte hinweg getrieben wurde. Durch Beweidung mit Rotem Höhenvieh versucht man, zumindest einige davon zu erhalten. Knorrige Buchen und Ahornbäume ragen als Schemen aus der weißen Weite. Durch die Luft hallt der Funkverkehr der Kolkraben, die pechschwarz um die Wipfel kreisen. Wieder reicht die Sicht bis zu den Alpen.Es liegt etwas wohltuend Wehmütiges und zugleich Befreiendes in diesem Fernblick. Man inhaliert ihn regelrecht, wandert im Geiste über Berge und Täler, verliert sich darin, und inhaliert immer weiter. Schon Stifter befand: „Auf Höhen war mir wohler.“
Der Lindberger Schachten ist leicht zugänglich, die meisten anderen liegen viel tiefer drin im Gebirge. Auch hier hat Schmid noch die letzten Waldhirten gekannt, „des war’n schon b’sondere Leut“. Einer bekam einmal die Woche Besuch von seiner Frau, die mit einem Wecken Brot, Schmalz und Käse zu ihm hinaufstieg. „Zurück musst’ sie dann im Dunkeln, da hat sie si immer g’forchten.“ Wobei nur wenige Hirten verheiratet waren. „Die Frauen verstehn mi ned“, klagte ein anderer – seine Lebensweise nämlich, seine Partnerschaft mit dem Vieh und seine Freude an der Stille.
Heute sind die Schachten legendäre Wanderziele, sommers wie winters. Manche tragen geheimnisvolle Namen wie „Luchsplatzl“ oder „Verlorener Schachten“. Wer sie nach stundenlangem Marsch durch dichte Wälder erreicht, glaubt wirklich, am Ende der Welt angelangt zu sein. Hier führen auch keine Wege hinüber nach Tschechien. Einer aber doch, ein schmaler, kaum bekannter Steig. Er trägt den Namen „Wildes Herz“. Wo, wenn nicht hier, wäre die Mitte Mitteleuropas zu suchen?
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