Bau-Streit: Ein irreparabler Schaden

Nahe Oldenburg, versackt ein Siedlerhof im Moor. Schuld sein soll die Sanierung des Augustfehnkanals - seit 14 Jahren streitet die Bewohnerin mit der Behörde.

Die Schäden sind unübersehbar - ebenso, wann die Behörde dafür zahlt. Bild: Thomas Schumacher

HAMBURG taz | Die Nacht im Spätsommer 1999 wird Sabine Lohrenscheit nie vergessen. „Es gab einen fürchterlichen Knall. Ich bin durchs Haus geschlichen, habe aber keine Ursache gefunden“, erinnert sie sich. Erst bei Licht besehen, am nächsten Morgen, fallen ihr die Risse in den Wänden des alten Siedlerhofs auf. „Um die Kinder zu beruhigen, haben wir Bilder um die Risse gemalt“, erzählt Lohrenscheit. So lebten plötzlich Schnecken mit markanten Rückenlinien und mexikanische Kakteen in der Küche des Backsteinhauses, 20 Kilometer von Oldenburg und unmittelbar am Augustfehnkanal gelegen.

Doch die „Kunst am Bau“ wanderte, die Risse wurden breiter. An den zerborstenen Wänden sind mit Filzer Memos angebracht: „Nachbar A: hat auch Risse“, „Nachbar B: jetzt ist das Erdkabel abgerissen“. „Irgendwann verliert man den Überblick. Um nichts zu vergessen, habe ich die Schäden neben die Risse an den Wänden geschrieben“, sagt Sabine Lohrenscheit. Schuld daran soll die Sanierung des Augustfehnkanals sein, der 1999 verschmälert wurde.

Durch alle Instanzen

Sabine Lohrenscheit ist deshalb vor Gericht gegangen. Doch obwohl alle Instanzen bis hin zum Bundesgerichtshof der Ende 50-Jährigen Recht zugesprochen haben, weigerte sich ihr Prozessgegner, die Ammerländer Wasseracht, 14 Jahre lang, eine Haftung anzuerkennen. Im letzten Jahr hat das Oberlandesgericht Oldenburg endgültig festgestellt, dass die Wasseracht haftet – nun geht es um die Höhe der Entschädigung. Aber das kann erneut Jahre dauern.

Es blieb nicht bei den Rissen in der Wand. „Es kamen Freunde zu Besuch und ich lachte: ,Guck mal, meine Sickergrube wächst‘“, erzählt Sabine Lohrenscheit. Der Besuch sah kritisch auf den aus dem Boden herausragenden Sickerschacht. Kommentar: „Nee, dein Boden sackt ab.“ Bald hatten Lohrenscheits freien Blick durch die Wand des Wohnzimmers aufs Meer, sprich auf den Augustfehnkanal. Der ehemalige, knapp zehn Kilometer lange Torftransportweg verläuft gut 30 Meter an der Hausfront vorbei. Getrennt wird das 2,5 Hektar große Anwesen vom Kanal durch eine Straße und einen Radweg. „Früher waren Straße, Radweg und Haus etwa auf einer Ebene“, Sabine Lohrenscheit zeigt auf die Bodenwelle. In die Einfahrt zu ihrer Hausruine geht es heute geschätzt einen Meter tief. Die alten Eichen, Buchen und Kiefern auf dem Grundstück sehen nicht sehr gesund aus.

Überfällige Sanierung

Der Augustfehnkanal wurde ab 1999 saniert. Er war verseucht, er stank, teilweise lag er im Sommer trocken. Schon lange wollte die Ammerländer Wasseracht den Kanal sanieren, doch es fehlte das Geld. Mit EU-Hilfe konnte das Projekt schließlich in Angriff genommen und 2000 abgeschlossen werden. Kontaminierter Schlick, über Jahrzehnte abgelagert, wurde ausgebaggert und der Kanalquerschnitt in manchen Abschnitten bis zur Hälfte verkleinert. Aus dem Kanal wurde ein Fließgewässer, das an die Tide der Nordsee angeschlossen wurde.

Zweimal am Tag wird das Kanalwasser jetzt über einen naheliegenden Entlastungspolder, das Apener Tief, die ostfriesische Jümme, Leda und Ems ausgetauscht. So wird aller Dreck in die Nordsee ausgeräumt und die Wasserqualität von sehr stark verschmutzt auf kritisch belastet verbessert – das ist der in der Region übliche Wert.

„Die Sanierung des Augustfehnkanals ist nicht die Ursache der Schäden am Grundstück von Frau Lohrenscheit“, erklärt Richard Eckhoff, Geschäftsführer der Ammerländer Wasseracht und Prozessgegner von Sabine Lohrenscheit. Auch seine Behörde kämpft seit 14 Jahren – gegen Sabine Lohrenscheit. Eckhoff schiebt die Schäden an Haus und Grundstück auf den langsam austrocknenden Moorboden des Lohrenscheit-Grundes und die falsche Sanierung des Hauses. „Der Gutachter gibt uns recht“, meint Eckhoff und zitiert ein vom Gericht noch nicht bewertetes Papier. Dass an dem im 19. Jahrhundert erbauten Haus bislang keine Schäden aufgetreten waren, irritiert ihn nicht.

Bislang haben alle Instanzen bis hinauf zum Bundesgerichtshof Sabine Lohrenscheit eine Entschädigung zugesprochen. Denn die Geriche sahen sehr wohl einen „Gesamtzusammenhang“ mit der Sanierung des Kanals. Jetzt geht es am Oldenburger Landgericht um die Höhe der Entschädigung. „Sicher ist das alles schrecklich. Ich wünsche mir nicht, dass mir so etwas passiert“, sagt Richard Eckhoff. „Wir wollten Frau Lohrenscheit gerne helfen und haben im Vergleichsverfahren ein Angebot gemacht.

Tatsächlich gibt es ein Vergleichsangebot – der Haken daran: Die Wasseracht wollte das Grundstück für einen Spottpreis übernehmen. Eckhoff sieht das anders: „Solche Zahlungen müssen wir unseren Gremien erklären.“ Sabine Lohrenscheit treten Tränen in die Augen. „Das Haus war unser Familienmittelpunkt. Wir wollten unser Heim zurück.“ Sie ist nicht die einzige, die nach der Kanalsanierung Schäden festgestellt hat: Nachbarn haben das ebenfalls getan. „Die haben alle, wie bei Frau Lohrenscheit nichts mit der Kanalsanierung zu tun“, erklärt Wasserachts-Chef Eckhoff.

„Nut’ scha nix“

Sabine Lohrenscheits Nachbarn haben nicht geklagt. Gegen Behörden klagt man in Ammerland nicht: „Nut’ scha nix“ – nützt ja nichts. Sabine Lohrenscheit ist kein Michael Kohlhaas. Sie ist zu sanft. Aber sie kämpft. Sie ist erschöpft – aber sie besteht auf ihrem Recht. „Ich habe mir allein alle Kenntnisse über Bodensanierung aneignen müssen“, sagt die Sozialpädagogin. „Die Wasseracht verweigert sich den Gerichtsentscheiden und macht eine ganze Familie fertig.“ Sie schüttelt den Kopf. „Woher nimmt die Behörde das Geld für einen so langen Gerichtskrieg?“

Vergangene Idylle

Die Erinnerung an das ehemalige Zuhause treibt ihr immer wieder die Tränen in die Augen. „Die Kinder waren glücklich“, sagt sie. Sie bauten mit ihren Freunden Hütten und Baumhäuser, ihre Schulklassen kamen zu Besuch und tobten durchs Gelände. Wenn Revierjagd war, flüchteten sich Rehe, Hasen und Fasane auf das Grundstück, denn am Haus durfte nicht geschossen werden.

Wenn Sabine Lohrenscheit heute ihr früheres Zuhause zeigt, ist von dieser Idylle nicht mehr viel zu sehen. 2006 rissen alle Versorgungsleitungen. Den Winter hätte die Familie ohne Heizung nicht überstehen können. Glücklicherweise bekam der jüngste Sohn einen Studienplatz in Kiel. Ihre Kinder drängten Sabine Lohrenscheit mit über 50 Jahren dazu, ein Aufbaustudium zu beginnen. „Du hast uns alle durchs Abi gebracht, jetzt bringen wir dich durchs Studium“, unterstützen sie ihre Mutter. Tatsächlich bekommt sie einen Studienplatz und zieht ins brandenburgische Henningsdorf.

Lebensgeschichte im Bus

Von ihrer Lebensgeschichte kann sie gerade mal einen VW Sprinter mit Möbeln und Erinnerungsstücken beladen. Dann übernehmen Dorfbewohner, Jugendliche und Vandalen das Kommando. Ihr Haus wird geplündert und verwüstet. „Geiles Bad“ sprayt einer auf die Badezimmerwand und nimmt die Einrichtung gleich mit. Eine Strafanzeige gegen einen Dorfbewohner, der alle Türen ausgebaut hatte und sich daraus eine Hausbar zimmerte, kommentierten die Behörden mit: „Dann reißen sie ihm doch die Bar einfach wieder ab!“

Wunsch nach Rückkehr

Heute ist das Haus der Familie Lohrenscheit unbewohnbar. Dabei würde Sabine Lohrenscheit gern ins Ammerland zurückkehren – vorausgesetzt, sie findet eine angemessene Stelle und ein Haus, das wieder als Familienmittelpunkt dienen kann. Sogar auf dem alten Grundstück würde sie versuchen, ein neues Haus zu bauen.

Währenddessen verfällt das alte Haus. Einmal war sie mit der Enkelin dort, um Blumen auszugraben – aber die Besuche sind schmerzhaft. Laut Gerichtsurteil muss die Ammerländer Wasseracht auf dem Lohrenscheit’schen Anwesen haften. Das tut sie bislang aber nicht. „Wir akzeptieren die Urteile, sind aber anderer Meinung“, beharrt Prozessgegner Richard Eckhoff. Eine Einigung ist nicht in Sicht. Das Verfahren läuft. „Die materielle Schadenshöhe kann hoffentlich durch das Gericht festgestellt werden“, sagt Sabine Lohrenscheit. „Den Schaden, den meine meine Familie und ich erleiden mussten, der ist irreparabel.“

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