Banken betrügen Kleinanleger: Alt und doof
Die Kleinanleger, die Lehman-Zertifikate gekauft haben, sind einem abgekarteten Betrugssystem auf den Leim gegangen. Jetzt verlangen sie ihr Geld zurück.
Es ist die Zeit der bürgerlichen Dämmerung. Die Farben des Abendhimmels werden von den Leuchtreklamen der Geschäfte und den Lichtern der Autokolonnen überstrahlt. Es ist kalt an diesem Donnerstag, Anfang Januar 2011. Ein gefrierender Nieselregen setzt ein, dennoch ist die Schlossstraße in Berlin-Steglitz voller Passanten um diese Zeit. Direkt am Bierpinsel residiert eine Filiale der Targobank, vormalig Citibank. Merkwürdige Demonstranten stehen neben der gläsernen Automatiktür. Sie haben sich Plakate um den Hals gehängt, auf denen seltsame Sätze zu lesen sind wie: "Die Targobank hat ganz beflissen uns um unser Geld beschissen" oder: "Citibank vertraut, Ruhestand versaut." Oder: "Vorsicht vor der Targobank - Drückerkolonne!"
Die Damen und Herren Demonstranten haben meist silberweißes Haar, sind gut gekleidet und sehen nicht aus, als hätte man ihnen an der Wiege gesungen, dass sie eines Tages als Häuflein von "Störern" auf die Straße gehen werden, mit Tröte, Trommel, Trillerpfeife und Megafon. Tapfer stehen sie fröstelnd im Regen, ohne Schirm, skandieren ihre Parolen und verteilen Handzettel an die misstrauischen und pressierenden Passanten. Viele denken wohl, dass es sich um irgendwelche Umweltfreunde handelt, die Wale oder Bäume retten wollen.
Einige Leute bleiben stehen, fragen nach, beginnen ein Gespräch und verstehen allmählich, worum es sich ungefähr handelt. Eine Passantin sagt mitfühlend: "Schrecklich, was Ihnen da passiert ist. Sie müssen sich unbedingt an Ihre Politiker wenden!" und erntet Gelächter. "An die? Die tun gar nichts für uns!"
Kunden der Bank, die hinein-oder herauswollen, drücken sich eher peinlich berührt an dem Grüppchen vorbei. Wer möchte schon gern hören, dass er sein Geld auf dem Konto bei einer Betrügerbank hat? Es soll aber auch Kunden gegeben haben, die nach einem Gespräch mit Demonstranten ihr Konto auflösten.
Die Demonstranten skandieren: "Die Citibank hat mit Bedacht uns um unser Geld gebracht!" - "Genau!", ruft die asiatische Krankenschwester. Sie hat die Ersparnisse ihres Arbeitslebens komplett eingebüßt. Dann werden die Transparente verstaut, das fünfzehnköpfige Grüppchen zieht zur Fortsetzung des Protestes ein paar Schritte weiter, vor die Filiale der Commerzbank, einer Privatbank, die mihHilfe von 1,8 Milliarden Euro Steuergeld die Dresdner Bank geschluckt hat, keine Zinsen, keine Rückerstattung zahlt, aber Boni für den Vorstand. Der Anführer der Demonstranten, ein quirliger Mann mit Megafon, Bela Paradi, der 60.000 Euro verloren hat, ruft: "Vertraut hab ich der Dresdner Bank. Mein Konto leer. Das ist der Dank" und "Lügnerbank! Gebt uns unser Geld zurück! Wir kommen wieder. Der Kampf geht weiter!"
Das alles findet unter dem strengen Auge des Gesetzes in Form eines älteren Polizisten mit Brille statt. Er trägt die neue Uniform in Dunkelblau - statt der alten in Erbsgrün. Sie wurde, um den torkelnden Wahnsinn komplett zu machen, vom Modedesigner Luigi Colani entworfen, hat alarmierende Reflektorenstreifen und 24 Taschen. Ein Namensschild, das Demonstranten seit 40 Jahren vergeblich gefordert haben, funkelt auf seiner Brust, eine achteckige Schirmmütze krönt seinen Kopf. Er nimmt die ihm übertragene Aufgabe sehr ernst und schreitet sofort ein, wenn der Kundenverkehr behindert wird.
Der Grund, weshalb die Demonstranten hier stehen, ist längst in Vergessenheit geraten. Er galt im Herbst 2008 als das zentrale Ereignis der Weltwirtschaftskrise. Es lohnt sich, einen Rückblick auf die bizarre Szenerie zu werfen, in der sich die Demonstranten damals verfangen haben: Im September 2008 ging die viertgrößte Investmentbank der Welt pleite. Der Untergang der US Bank Lehman Brothers - 1860 von drei aus Franken eingewanderten jüdischen Brüdern gegründet - wurde als größte Pleite der Finanzgeschichte bezeichnet. Die Bank Lehman Brothers hatte bis dahin alle Katastrophen überlebt, 1929 den Börsencrash, 1984 das vorübergehende Geschlucktwerden durch American Express, 2001 die Zerstörung ihres Datencenters im Nordturm des World Trade Centers und ihrer Zentrale im World Trade Financial Center und sogar die Immobilienkrise.
Verweigerte Rettung
Dass diese traditionsreiche Bank, die als "too big to fail" galt, dennoch in Konkurs ging und nicht mit Staatsgeldern "gerettet" wurde - wie vor und nach ihr andere Banken -, war ein Sakrileg. Die Weigerung, sie zu retten, wird auf den Wahlkampf in den USA 2008, ihre vorwiegende Auslandstätigkeit - sie hatte keine US-Privatkunden - und auf die Rivalität zwischen Finanzminister Paulson und Lehman-Chef Fuld zurückgeführt. Es gibt auch Vermutungen, die Lehman-Pleite sei taktisch notwendig gewesen, um den nachfolgenden großen "Rettungsschirm" politisch plausibel zu machen. Nur dadurch sei der Zusammenbruch des gesamten Finanzmarktes abwendbar gewesen.
Die Geschichte der Lehman-Pleite bahnte sich bereits im Jahr 2000 an. Nach dem Absturz der New Economy senkte die US-Zentralbank den Leitzins auf 1 Prozent, wodurch sich die angeschlagenen Banken mit billigen Krediten versorgen konnten. George Bush versprach damals in seinem Wahlkampf "jedem sein eigenes Haus".
Die Banken witterten ein großes Geschäft, und es wurden umfangreiche Werbefeldzüge in Gang gesetzt. Speziell dem unteren Mittelstand wurden billige Kredite für Eigenheime angedreht zu extrem günstigen Konditionen: kein Bonitätsnachweis, kein Eigenkapital. 100 Prozent cash zu flexiblen Zinsen. Das löste für einige Jahre einen enormen Boom vergebener Kredite, steigender Immobilienpreise und hoher Zinsgewinne aus. 2007, als es schon rasant abwärts ging, kaufte Lehmann dennoch einen Immobiliengiganten und damit einen gewaltigen Immobilienbestand. Der Leitzins war inzwischen gestiegen. 2007 lag er schließlich bei 5,25 Prozent, und viele Banken nahmen 12 oder sogar 20 Prozent von ihren Kunden, sodass die Kreditnehmer dieser "Subprime-Kredite" ihre Rückzahlungen nicht mehr leisten konnten.
Völkerwanderung
Massenhaft wurden Zwangsräumungen durchgeführt mit der Folge, dass eine wahre Völkerwanderung von Exmittierten - vielfach schwarzen Familien - auf der Suche nach Unterkunft und Verdienstmöglichkeit durchs Land zog oder in Zeltstädten unterkam. Ganze Eigenheimsiedlungen standen leer und verfielen, ebenso wie die Immobilienpreise. Das gefährdete auch Lehmans Bonität und damit die Chance, umstandslos bei anderen Banken Kredite zu bekommen.
Die kollabierenden Hypothekenbanken, die ihre Immobilien nicht mehr loswurden, verkauften ihre Hypothekenpapiere beziehungsweise deren Zahlungsansprüche an die großen Investmentbanken. Für die wiederum bestand das Geschäft dann in der Mehrfachverwertung dieser Hypotheken. In sogenannten Kreditpaketen wurden "notleidende Kredite" zwischen "gesunde" Papiere gemischt, und für dieses Produkt bekam man dann von Ratingagenturen gute Noten. Schon war ein lukrativer Weiterverkauf möglich. Damit begann weltweit ein hektischer Handel zwischen den Banken, der nach anfänglich hohen Gewinnen in die Finanzkrise mündete. Lehman Brothers war mit 100 Milliarden Dollar der größte Verkäufer von Kreditpaketen. Das war das Hauptgeschäft der Bank. Die Verschuldung wuchs enorm, Milliardenbeträge wurden verschleiert, bis dann der Zusammenbruch Ende 2008 das Ausmaß offenbarte.
Auch die Deutsche Bank hat sich massiv am Handel mit Kreditpaketen beteiligt, erlitt aber als Insiderin durch rechtzeitigen Verkauf vergleichsweise wenig Verluste. Es wurde und wird von den Strategen der Finanzindustrie mit diesen und anderen Papieren ein ausgeklügeltes und kriminelles Geschäft betrieben. Im Herbst vorigen Jahres wurde zudem bekannt, dass US-Hypo-Banken in großem Umfang Massenversteigerungen der "herrenlosen" Immobilien mit gefälschten Hypothekenbriefen betrieben haben.
Stupid german money
Der Verkauf von Lehman-Zertifikaten in Deutschland war ein eher unscheinbarer Schachzug im großen Spiel des Finanzbetrugs. Er traf die deutschen Kleinanleger dennoch mit unverminderter Härte. Die sogenannte Emittentin ihrer Unglückspapiere war die Lehman Brothers Treasury Co. B. V. in Amsterdam. Sie firmierte dort, um der deutschen Einlagensicherung zu entgehen, und war eine Briefkastenfirma ohne Personal und Telefon. Sie hatte nur einen einzigen Existenzzweck, sie sollte in Deutschland das "stupid german money" - so der US-Finanzbankerjargon - sparsamer und dummer Rentner abfischen, mittels Zertifikaten zur Refinanzierung der verschuldeten US-Mutterbank Lehman Brothers.
Banken in Deutschland erwarben diese Zertifikate günstig von der holländischen Tochter und verkauften sie mit Gewinn an ihre Kunden weiter. Geschätzte 50.000 deutsche Kleinanleger kauften und verloren am Ende insgesamt eine Summe von mehr als 1 Milliarde Euro. Mit der Insolvenz der Lehman-Bank - ihr Werbespruch: "Unsere Bank gehört Ihnen" - war ihr Geld weg, auf einen Schlag! Wären allerdings die versprochenen Renditen anstandslos geflossen, hätte kaum einer etwas auszusetzen gehabt. Nichtsdestotrotz aber sind diese Kleinanleger einem abgekarteten Betrugssystem auf den Leim gegangen beziehungsweise geradezu auf den Leim genötigt worden.
Viele der Geschädigten haben sich in ganz Deutschland Ende September 2008 zusammengeschlossen, eine Internetseite errichtet, sich vernetzt und eine Datenbank angelegt. Wobei bald deutlich wurde, dass Dresdner Bank und Citibank - Tochter der US Citygroup, die wiederum der größte Gläubiger der Lehman Bank war - den Hauptteil des Handels abgewickelt hatten. Am 4. 12. 2008 war die erste Mahnwache in Berlin. Seither gibt es wöchentliche Treffen zu Mahnwachen und Demonstrationen vor Bankfilialen in verschiedenen Städten. Originelle Aktionen wie die "Krötenwanderung" - das war eine massenhaftes Abheben von den Konten von mehr als 8 Millionen Euro - und das Hinlegen vor die Banken als Leichen, über die man ging, haben bundesweit die Aufmerksamkeit der Medien erregt.
Es handelt sich hier nicht um spielsüchtige Zocker. Die meisten dieser Kleinanleger verkörpern den deutschen Mittelstand. Von der Sekretärin über den Angestellten im öffentlichen Dienst, dem kleinen Beamten bis hin zum selbstständigen Architekten sind alle vertreten. Eben Leute, die zeitlebens verantwortungsvoll mit ihrem Geld umgegangen sind, das Ererbte und Ersparte konservativ angelegt haben und es fürs Alter und für die Kinder ein wenig vermehren wollten. Bis ihnen eines Tages Berater, die unerbittlich zum Verkauf entschlossen waren, mit Rendite-und Sicherheitsversprechen eine Unterschrift zum Kauf der Lehman-Zertifikate aufgeschwatzt haben. Die Kunden konnten nicht ahnen, dass sie damit ihr Erspartes einer Geldvernichtungsmaschine in den Rachen warfen. Heute fragen sie sich, weshalb sie es nicht zu Hause in den Sparstrumpf gesteckt haben, dann wären nur 2 Prozent durch Inflation geschwunden.
Im internen Bankjargon nannte man sie AD-Kunden (alt und doof). Viele Anleger, obgleich sie oft über erhebliches Sparvermögen und auch Wertpapierdepots verfügten, wussten weder, was ein Emittent, ein Indexwert, eine Investmentbank, ein Zertifikat beziehungsweise eine Schuldverschreibung ist. Noch wussten sie, dass die Lehman-Bank eine amerikanische Bank ist. Auch nicht, dass es keine Einlagensicherung gibt und im Pleitefall 100 Prozent Kapitalverlust. Sie haben ihrer Bank und dem Sachverstand ihres Bankberaters blind vertraut. Man lernt ja auch nicht Tischler, bevor man sich einen Schrank kauft. Keiner von ihnen hätte diese Papiere gekauft, wäre klar gewesen, dass es sich quasi um ein hoch kompliziertes und riskantes Wettgeschäft handelt. Auch eine Schuldverschreibung hätte Verdacht erregt, schon allein das Wort Schuld löst in Deutschland Abwehr aus. Und niemand hätte sein Geld einer holländischen Briefkastenfirma anvertraut, um das Schuldenloch einer US-Bank zu stopfen.
Mancher fragt sich vielleicht, woher eigentlich all diese vielen Kleinanleger plötzlich kamen. Früher waren Aktien was für Leute mit Kapital, für Reiche. Aber doch nicht für den kleinen Mann! Das änderte sich in den 90er Jahren während des Technologiebooms. In Deutschland brach ein vollkommen verrücktes Aktienfieber aus. Es war wie ein Veitstanz. Die Telekom-Aktie wurde mit einer 100 Millionen teuren Werbekampagne und dem Versprechen: "So sicher wie eine vererbbare Zusatzrente" als "Volksaktie" vom Staat auf den Markt geworfen und massenhaft an die arglose Bevölkerung verkauft. Allerorten bildeten sich für diejenigen, die sich einen Alleingang nicht zutrauten, "Investment Clubs" nach dem Vorbild der Lotto-Gemeinschaften. Alle hegten märchenhafte Erwartungen an ständig steigende Erträge. Aber als dann zur Jahrtausendwende die New-Economy-Phase plötzlich zu Ende ging, da wurde klar, die märchenhaften Gewinne hatten andere gemacht.
Aktien in der Suppenküche
Meine Freundin Elisabeth Kmölniger und ich haben damals drei Jahre lang eine Armutsreportage in Berliner Suppenküchen und Wärmestuben gemacht. Unser Verhältnis zu den Armen und Obdachlosen war recht vertraut, und wir haben nicht schlecht gestaunt, als uns einige der jüngeren Männer anvertrauten, sie hätten - trotz der Kontingentierung - einige Technologie-Aktien von Infenion zu 68 DM pro Stück ergattert. Am Computer des Sozialamts, das es damals noch gab, konnten sie im Internet verfolgen, wie ihre Aktien im Wert imposant anstiegen, schnell sanken, um dann weit unter den Kaufwert zu fallen. Über dieses Drama wurden wir jeweils unterrichtet, bei Wurstbrot und Kaffee, in einer Wärmestube für Obdachlose bei der Caritas am Bundesplatz.
Manchmal schließt sich der Kreis. Mehr als zehn Jahre später, an einem Donnerstag Anfang Januar um 19.30 Uhr, betreten wir diesen Raum am Bundesplatz wieder. Die Armen dürfen sich hier immer noch tagsüber aufwärmen. Sie sind seit 18 Uhr weg, es ist gelüftet, aufgeräumt und geputzt. Auf ihren Plätzen hat sich die Gruppe der "Interessensgemeinschaft der Lehman-geschädigten Kleinanleger" zu ihrem 14-tägigen Stammtisch niedergelassen. Es sind etwa drei Dutzend, meist ältere Frauen und Männer. Sie haben zwischen 5.000 und 140.000 Euro durch mangelhafte Beratung und wertlos gewordene Lehman-Zertifikate verloren.
Anwesend ist auch ein Anwalt, spezialisiert auf Bank-und Kapitalanlagenrecht. Er berichtet über diverse Verfahren, erklärt, dass eine Sammelklage hier nicht möglich ist, beantwortet Fragen und gibt Ratschläge, was zum Beispiel zu tun sei, um die Verjährung der Ansprüche zu unterbrechen. Für viele rückt nach fast drei Jahren der Zeitpunkt gefährlich näher. Sie müssen einen Ombudsmann aufsuchen oder klagen. Viele haben nur noch wenig Hoffnung, obwohl es bereits mehrere Urteile zugunsten von Geschädigten gibt. Außerdem wird berichtet, dass viele Rechtsschutzversicherungen aufgrund einer Klausel zu Finanzveranlagungen die Kosten nicht übernehmen.
Eine ältere Frau um die 70, die anonym bleiben möchte, erzählt uns: "Ich war Angestellte im öffentlichen Dienst, und das waren praktisch meine Ersparnisse, die jetzt weg sind. Ich habe am 16. 5. 2007 für 20.000 Euro Lehman-Papiere gekauft. Mein Berater hat mir die empfohlen, eher eingeredet. Ich habe ihm vollkommen vertraut und natürlich gesagt, dass es sicher sein muss und wofür ich das Geld brauche. Ich habe ja diese Vorerkrankung und, falls die noch mal ausbricht, dass ich dann für alle Fälle Geld habe für alternative Therapien und für ein Altersheim. Denn meine Rente, die ich habe, die reicht nicht aus, um ein Einbettzimmer zu bezahlen. Also ich muss ein Einzelzimmer haben, sonst werde ich verrückt! Und man braucht ja auch ein bisschen Fußpflege und einen Frisör im Heim. Wenn man alleinstehend ist wie ich, muss man für jeden Handschlag zahlen. Bevor ich zur Citibank ging, hatte ich nur Festgeld- und Sparkonto gehabt, und sie haben mich dann zu dieser abenteuerlichen Sache überredet. Das wurde sehr geschickt gemacht, die sind ja geschult. Der Berater hat mir den ganzen Verlauf am Computer ,erklärt', wie das geht mit diesem Lehman-Brother-Alpha-Express-Zertifikat, dass die Rendite also von minus 5 bis plus 12 Prozent sein kann, da ist irgendwas mit einem DIV-DAX und DAX, dass es eben auf den Stichtag ankommt usw. Aber es gab nie eine Rendite. Ich habe doch keine Ahnung von diesen Geldsachen!
Heute, durch unseren Stammtisch hier, da weiß ich, dass ich mit diesem Papier eine Wette abgeschlossen habe mit der Lehman-Bank auf die Entwicklung verschiedener DAX-Werte. Aber hohes Risiko, Totalverlust, davon war keine Rede damals. Er sagte, es sei sicher, und dann sagte er noch, das ist eine der größten Banken, eine Familienbank, über 160 Jahre alt. Und natürlich weiß ich jetzt - ich habe viel gelernt am Stammtisch -, dass das eine Investmentbank ist oder war.
Ja, die Kleinen und Doofen, mit denen kann man es machen. Das ist das, was ich mir so übel nehme - und daher auch meine Magenschmerzen. Wie konnte ich nur so gutgläubig sein? Wie konnte ich nur! Und andererseits, warum werden wir als Bürger nicht geschützt vor solchen Betrügern? Leider ist es im Gegenteil so, dass wir von unseren Politikern auch nur betrogen und angelogen werden. Und wenn man sich anschaut, wie sie jetzt um 5 Euro Hartz-IV-Zulage nächtelang beraten, das ist eine Schande! Das kostet ja schon der Kaffee, den sie in der Pause trinken. Nee. Jedes Vertrauen ist vollkommen weg!"
Es sind erstaunlich viele Frauen hier, die sich engagieren und durch ihre Eloquenz auffallen. So auch Frau Theiler, die Gründerin der Interessengemeinschaft der Berliner Lehman-Geschädigten. Sie ist Witwe, eine zierliche Frau um die 50: "Fast überall sind es die Frauen, die die Gruppen am Leben halten. Nicht nur in Berlin. Angefangen mit Frankfurt, München, Heidelberg, Düsseldorf, Hannover, Bremen. Die Männer geben oft viel schneller auf. Aber wir haben hier auch einige sehr aktive und unverzichtbare Männer, muss ich sagen. Ich habe die IG hier am 8. November 2008 gegründet. Es gab damals ein Forum, und wir Berliner hatten uns in diesem Zusammenhang kennengelernt. Beim ersten Treffen waren wir noch nicht so viele, beim zweiten Treffen waren wir schon 30 Leute. Da wurde es dann auch emotional und laut. Beim dritten Mal hatten wir schon Trillerpfeifen. Damals waren wir 35 bis 40 Leute und haben nicht mehr reingepasst ins Hinterzimmer beim "Kegelkönig", deshalb sind wir dann umgezogen.
Am 1. Jahrestag am 15. 9. 2009 haben wir eine riesige Demo gemacht. Und von Anfang an war der Donnerstag unser regelmäßiger Mahnwachen- und Demonstrationstag. Viele waren noch nie in ihrem Leben auf einer Demonstration. Auch für mich war das am Anfang natürlich etwas peinlich oder seltsam. Das hat sich bis heute nicht gelegt. Ich halte bei der Demo meine Flyer in der Hand, und wenn jemand zugreift, bekommt er einen. Aber ich kann nicht aktiv auf die Leute zugehen. Mir fällt es leichter, die Dinge zu organisieren.
Vorreiter der Wutbürger
Ich kenne alle hier im Raum, ihre Geschichte und das, was sie verloren haben. Was uns antreibt, ist unsere Wut. Ich glaube, wir waren die Vorreiter dieser Wutbürger-Bewegung. Es war und ist dieser Hass auch dabei, regelrechter Hass! Wir müssen doch gegen die gewissenlosen Banker und gegen diese ,beschissenen' Politiker etwas unternehmen! Wir müssen zeigen, dass sogar 70-Jährige auf die Straße gehen, weil sie sich das nicht gefallen lassen können. Und es geht ja hier nicht nur darum, dass wir unsere Kröten wiederkriegen, es geht auch ums Prinzip. Das ist meine Triebfeder!
Und das hat bei mir auch noch einen privaten moralischen Hintergrund. Mein Mann war krebskrank, wir haben jeder Chemo hoffnungsvoll, aber vergeblich entgegengefiebert. Kurz vorher ist er in die Offensive gegangen und hat damit für mich im Nachhinein das Bekenntnis abgegeben: Ich werde nicht mehr lange leben! Das hat er immer totgeschwiegen. Mein Mann wollte mich mit einer soliden Geldanlage absichern. Und dann das! Zum Glück hat er die Lehman-Pleite nicht mehr erlebt. Aber ich will jetzt gar nicht so ins Detail gehen, weil ich mitten in einer Klage stecke.
Ich kann nur so viel sagen: Wir sind zur Bank gegangen, wir sind ,beraten' worden, aber uns wurden ausschließlich Zertifikate vorgestellt. Wir sind da richtiggehend ,reingequatscht' worden. Bei jedem von uns hier liegt der Fall etwas anders, aber in der Hauptsache, dem Verkaufsgespräch, der sogenannten Beratung, ähneln sie sich alle. Manche Leute denken: selber schuld, dass ich so dumm war. Aber grade das war ja ein Baustein der Beratung, die Verkäufer haben es ja eingebläut bekommen, wie sie das Verkaufsgespräch darauf aufbauen, auf dieser Dummheit. Wie sie es interessant gestalten, in die Länge ziehen, viel reden, um dann plötzlich zu sagen: ,So, das Geschäftliche haben wir jetzt erledigt, es tut mir ganz furchtbar leid, aber ich habe jetzt schon wieder den nächsten Kunden. Unterschreiben Sie hier und hier, und wenn sie noch Fragen haben, jederzeit. Hier noch der Prospekt. Vielen Dank, auf Wiedersehen.'
Und nach der Katastrophe: NICHTS! Keine Reaktion von den Banken. Sie haben alles korrekt abgewickelt, behaupten sie. Irgendwann kam mal ein völlig lächerliches Kulanzangebot, das von uns abgelehnt wurde. Die würden uns am liebsten zum Schweigen bringen. Das können wir uns nicht gefallen lassen. Im Sommer 2010 waren wir sogar in Straßburg und haben vor der Europazentrale der Konzernmutter, der Crédit Mutuel, demonstriert. Sie hat ja die Citibank gekauft, seitdem heißt die Targobank. Das ist ein riesiges Gebäude. Wir haben uns gewundert, warum niemand erscheint von der Presse. Dann kam nach langer Zeit ein Arbeitnehmervertreter raus und sagte: "Ja, das ist alles ganz toll, was ihr hier macht. Aber die Straßburger Zeitung gehört der Bank!" Im Hotel haben wir dann durch Zufall eine Kellnerin getroffen, deren Onkel war Chefredakteur der Zeitung in Kehl. Das ist die Grenzstadt gleich überm Rhein. Da sind wir am Abend noch hingegangen, haben die Fotos abgeliefert, und am Wochenende war ein Bericht drin.
Die Wut und die Emotionen, die wir alle natürlich immer noch haben, die nutzen uns nichts. Wir müssen vor Gericht beweisen, dass die Dinge nicht rechtens waren. Das ist ein langer Kampf, der über Jahre gehen kann. Mancher wird das Ende nicht erleben. Viele wollen oder können das nicht mitmachen, schon aus gesundheitlichen Gründen. Ich selbst bleibe davon auch nicht verschont. Ich hatte Sehstörungen, habe Magenprobleme, Konzentrationsstörungen und insgesamt so ein Gefühl, als würde ich im Keller sitzen und nie mehr da rauskommen."
In Deutschland wurde den Bürgern von Politik und Finanzwirtschaft damals weisgemacht, die Wirtschaftskrise käme durch die Lehman-Pleite, sie sei rein amerikanischen Ursprungs. Vergessen gemacht wurde die Tatsache, dass es bereits vor Lehman ein deutsches Bankendesaster gab (HypoVereinsbank, die sich nach der Wende mit Ostimmobilien verspekuliert hatte, Hypo Real Estate, oder die HSH-Nordbank, die 1 Milliarde in hochspekulativen US-Papieren angelegt hatte - auch bei Lehman usw.). Die deutschen Banken galten als die risikofreudigsten, allen voran die Landesbanken.
Vergessen gemacht wurde auch und vor allem, dass Politiker, die als Steigbügelhalter der apokalyptischen Reiter dienen, für dieses Desaster und auch für die Schäden der Lehmann-Pleite in Deutschland verantwortlich sind. Geschäfte mit solchen Papieren waren in Deutschland verboten. Erst die rot-grüne Regierung hat mit ihren Deregulierungsmaßnahmen den Verkauf ermöglicht. Spekulative Geschäfte wurden zugelassen, um den "Finanzplatz Deutschland attraktiver zu gestalten". Selbst in den USA und in vielen europäischen Ländern ist der Verkauf solcher Zertifikate an Privatkunden verboten. Für Banken, die sich verspekuliert haben, werden zwar die maßlosesten "Rettungsschirme" aufgespannt, die geprellten Kunden hingegen erhalten keinerlei Hilfe. Sie werden auf den Klageweg verwiesen, wohl wissend, dass kaum etwas zur Stärkung ihrer Rechte unternommen wurde.
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