Baltische Wirtschaft schrumpft rapide: Nutzloses Sparen gegen die Krise
Aus dem rasanten Wirtschaftswachstum der einstigen Boomstaaten im Baltikum ist ein rapides Schrumpfen geworden. Den Regierungen fehlt Geld und Kreditwürdigkeit. Nun drohen Unruhen.
Der Begriff Flexibilität wird eine ganz neue Bedeutung bekommen, wenn ein Gesetz verabschiedet ist, das Estlands Regierung derzeit vorbereitet. Danach wird ein Unternehmen die Löhne seiner Beschäftigten unabhängig von geltenden Tarifverträgen senken dürfen. Voraussetzung ist die Einhaltung einer Zweiwochenfrist und eine "wesentliche Verschlechterung" der Ertragslage des Unternehmens.
Weltbankchef Robert Zoellick hat von Westeuropa schnelle Hilfe für die osteuropäischen Staaten gefordert. Diese bräuchten 120 Milliarden Dollar, um ihre Banken zu rekapitalisieren. Bisher habe der Westen die Krise jedoch eher noch verschlimmert. Viele Banken hätten - auch auf Drängen der jeweiligen westlichen Regierungen - ihr Geld aus Osteuropa abgezogen und den Ländern so den Geldhahn zugedreht. Osteuropäische EU-Länder, die nicht der Euro-Zone angehören, können sich am Kapitalmarkt kaum noch Geld leihen. Die Ratingagentur Moodys warnte, dass deshalb die Banken in den Schwellenländern und ihre westeuropäischen Mütter unter Druck geraten könnten. Das Bankensystem in der Region wird vor allem durch österreichische, deutsche, italienische und französische Geldhäuser dominiert. Daraufhin stürzten Finanztitel europaweit ab. Auch für die deutsche Realwirtschaft ist Osteuropa ein wichtiger Markt. 22 Prozent der Ausfuhren gehen in die Region. rtr
Die baltischen Staaten behalten auch in der globalen Krise ihre Führungsrolle: Innerhalb der Europäischen Union verzeichneten sie jahrelang die höchsten Wachstumsraten, nun schrumpfen sie am schnellsten. Um 9 Prozent sackte das estländische Bruttoinlandsprodukt, also die Summe aller hier produzierten Waren und Dienstleistungen, im vierten Quartal 2008 nach unten. Für 2009 haben die Experten bisher einen weiteren Rückgang um 9 bis 10 Prozent vorhergesagt, er wird wohl deutlich höher ausfallen. Die Immobilienpreise befinden sich im freien Fall. Mit einem Minus von 48 Prozent haben sie sich gegenüber Boomzeiten beinahe halbiert. Allein im Januar gingen sie um weitere 16 Prozent zurück.
Mit dem neuen Gesetz in Estland wird nun legalisiert, was vielerorts schon passiert. Zwanzigprozentige Lohnsenkungen für die Angestellten werden aus verschiedenen Firmen gemeldet. Im öffentlichen Dienst steht eine pauschale Kürzung der Gehälter um 7 Prozent an.
Dabei steht Estland unter den drei Baltenstaaten noch am Besten da. Lettland ist praktisch bereits pleite und wird nur noch durch Milliardenkredite des Internationalen Währungsfonds über Wasser gehalten. Litauen wird vermutlich im März den Gang nach Washington antreten müssen. Die Rezepte, die dem Land dann verordnet werden, sind vorhersehbar. Die Regierung hat sie in vorausschauendem Gehorsam bereits teilweise vorweggenommen. Die Leistungen der Sozialversicherungen und das Budget für die öffentlichen Löhne wurden um 15 Prozent gesenkt, die Mehrwertsteuern erhöht und Subventionen gestrichen, die die Arzneimittel und die Fernwärmeversorgung auch für RentnerInnen bezahlbar machen sollten.
Tatsächlich bleibt den Regierungen kaum ein Ausweg: Auf dicke Konjunkturpakete müssen sie mangels Geld und Kreditwürdigkeit verzichten. Für die Bevölkerung ist das kein Grund, stillzuhalten. Soziale Proteste mehren sich. In Lettland kippte letzte Woche die erste Regierung eines EU-Staates über die Krise.
So steil bergab war es in Estland, Lettland und Litauen nicht einmal zu Beginn der Unabhängigkeit in den Neunzigerjahren gegangen, als die sowjetische Planwirtschaft mit einem rücksichtslosen neoliberalen Hau-Ruck-Verfahren zu einer Marktwirtschaft umgekrempelt wurde. Und jeder Fünfte seinen Job verlor. "Die jetzige Krise wird tiefer", sagt Alf Vanags, Wirtschaftsanalytiker und Direktor von Biceps, dem baltischen internationalen Zentrum für wirtschaftspolitische Studien in Riga. "Und was die sozialen Folgen angeht, stehen wir erst am Anfang. Man kann sich fragen, was das Gesellschaftssystem aushält, wenn die Menschen die Geduld verlieren." Schließlich gebe es nun eine junge Generation, die mit dem Boom aufgewachsen sei.
Doch diesem Boom lag kein Wachstum der realen Wirtschaft zugrunde, sondern eine Blase. Er basierte vorwiegend auf Konsum, der mit ausländischem Kapital kreditfinanziert war. Sicherheiten forderten die Geldinstitute kaum - die ewige Konjunktur sollte die Rückzahlung der Darlehen sichern. Viel zu viel Kapital floss nicht in die Industrieproduktion oder den Aufbau einer Exportwirtschaft, sondern in Spekulationsbranchen wie den Immobilienmarkt.
Die bisherige feste Bindung der Währungen aller drei baltischen Staaten an den Euro lässt ein weiteres Absacken der Exportwirtschaft befürchten. Die Wechselkurse sind unrealistisch hoch. Die Stimmen mehren sich, die Abwertungen von bis zu 50 Prozent fordern.
Achtzig Prozent aller privaten und kommerziellen Darlehensnehmer in Lettland haben ihre Kredite in Euro aufgenommen, nicht in der Landeswährung Lats. Ihre Schulden würden sich mit einem solchen Währungsschnitt auf einen Schlag verdoppeln.
Der Begriff Flexibilität wird eine ganz neue Bedeutung bekommen, wenn ein Gesetz verabschiedet ist, das Estlands Regierung derzeit vorbereitet. Danach wird ein Unternehmen die Löhne seiner Beschäftigten unabhängig von geltenden Tarifverträgen senken dürfen. Voraussetzung ist die Einhaltung einer Zweiwochenfrist und eine "wesentliche Verschlechterung" der Ertragslage des Unternehmens.
Die baltischen Staaten behalten auch in der globalen Krise ihre Führungsrolle: Innerhalb der Europäischen Union verzeichneten sie jahrelang die höchsten Wachstumsraten, nun schrumpfen sie am schnellsten. Um 9 Prozent sackte das estländische Bruttoinlandsprodukt, also die Summe aller hier produzierten Waren und Dienstleistungen, im vierten Quartal 2008 nach unten. Für 2009 haben die Experten bisher einen weiteren Rückgang um 9 bis 10 Prozent vorhergesagt, er wird wohl deutlich höher ausfallen. Die Immobilienpreise befinden sich im freien Fall. Mit einem Minus von 48 Prozent haben sie sich gegenüber Boomzeiten beinahe halbiert. Allein im Januar gingen sie um weitere 16 Prozent zurück.
Mit dem neuen Gesetz in Estland wird nun legalisiert, was vielerorts schon passiert. Zwanzigprozentige Lohnsenkungen für die Angestellten werden aus verschiedenen Firmen gemeldet. Im öffentlichen Dienst steht eine pauschale Kürzung der Gehälter um 7 Prozent an.
Dabei steht Estland unter den drei Baltenstaaten noch am Besten da. Lettland ist praktisch bereits pleite und wird nur noch durch Milliardenkredite des Internationalen Währungsfonds über Wasser gehalten. Litauen wird vermutlich im März den Gang nach Washington antreten müssen. Die Rezepte, die dem Land dann verordnet werden, sind vorhersehbar. Die Regierung hat sie in vorausschauendem Gehorsam bereits teilweise vorweggenommen. Die Leistungen der Sozialversicherungen und das Budget für die öffentlichen Löhne wurden um 15 Prozent gesenkt, die Mehrwertsteuern erhöht und Subventionen gestrichen, die die Arzneimittel und die Fernwärmeversorgung auch für RentnerInnen bezahlbar machen sollten.
Tatsächlich bleibt den Regierungen kaum ein Ausweg: Auf dicke Konjunkturpakete müssen sie mangels Geld und Kreditwürdigkeit verzichten. Für die Bevölkerung ist das kein Grund, stillzuhalten. Soziale Proteste mehren sich. In Lettland kippte letzte Woche die erste Regierung eines EU-Staates über die Krise.
So steil bergab war es in Estland, Lettland und Litauen nicht einmal zu Beginn der Unabhängigkeit in den Neunzigerjahren gegangen, als die sowjetische Planwirtschaft mit einem rücksichtslosen neoliberalen Hau-Ruck-Verfahren zu einer Marktwirtschaft umgekrempelt wurde. Und jeder Fünfte seinen Job verlor. "Die jetzige Krise wird tiefer", sagt Alf Vanags, Wirtschaftsanalytiker und Direktor von Biceps, dem baltischen internationalen Zentrum für wirtschaftspolitische Studien in Riga. "Und was die sozialen Folgen angeht, stehen wir erst am Anfang. Man kann sich fragen, was das Gesellschaftssystem aushält, wenn die Menschen die Geduld verlieren." Schließlich gebe es nun eine junge Generation, die mit dem Boom aufgewachsen sei.
Doch diesem Boom lag kein Wachstum der realen Wirtschaft zugrunde, sondern eine Blase. Er basierte vorwiegend auf Konsum, der mit ausländischem Kapital kreditfinanziert war. Sicherheiten forderten die Geldinstitute kaum - die ewige Konjunktur sollte die Rückzahlung der Darlehen sichern. Viel zu viel Kapital floss nicht in die Industrieproduktion oder den Aufbau einer Exportwirtschaft, sondern in Spekulationsbranchen wie den Immobilienmarkt.
Die bisherige feste Bindung der Währungen aller drei baltischen Staaten an den Euro lässt ein weiteres Absacken der Exportwirtschaft befürchten. Die Wechselkurse sind unrealistisch hoch. Die Stimmen mehren sich, die Abwertungen von bis zu 50 Prozent fordern.
Achtzig Prozent aller privaten und kommerziellen Darlehensnehmer in Lettland haben ihre Kredite in Euro aufgenommen, nicht in der Landeswährung Lats. Ihre Schulden würden sich mit einem solchen Währungsschnitt auf einen Schlag verdoppeln.
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