: Balance zwischen Nähe und Distanz
■ Betreute Wohnformen für chronisch psychisch Kranke außerhalb der Klinik haben sich bewährt/ Es mangelt an Wohnungen/ BetreuerInnen fürchten, daß Kranke nach Vereinigung »hintenüberfallen«
Berlin. Es kann jedem passieren. Plötzlich hört man Stimmen, obwohl wirklich niemand da ist. Die eigene Wahrnehmung entspricht nicht mehr der Realität. Freunde bestehen darauf, daß etwas nicht in Ordnung ist, und man selber fühlt sich ganz normal.
Halluzinationen, Stimmen hören oder Verfolgungswahn — Anzeichen dafür, daß jemand »psychisch auffällig« wird, oder besser gesagt: psychisch erkrankt ist. Im Jahresdurchschnitt brauchen gut 300.000 BerlinerInnen — das sind zehn bis 12,5 Prozent der Gesamtberliner Bevölkerung — professionelle Hilfe und müssen sich einer psychotherapeutischen Behandlung in der Klinik unterziehen. Die meisten, die sogenannten akut-psychisch-Kranken, können sich relativ schnell wieder in das »normale« gesellschaftliche Leben eingliedern — wenn zum Teil auch mit psychotherapeutischer Begleitung. Ein geringer Prozentsatz jedoch, in West-Berlin etwa 16.000 Personen, werden trotz der Behandlung in der Klinik nicht gesund. Sie sind chronisch erkrankt.
Chroniker — diese Bezeichnung liefert den Beigeschmack von Unheilbarkeit und Resignation gleich mit. So ist das Leben vieler chronisch psychisch Erkrankten entprechend bitter. Durch jahrelange Klinikaufenthalte zerreißen soziale Bindungen, Wohnung und Arbeitsplatz sind längst anderweitig vergeben. Folge: Das Leben ist die Klinik und die Klinik das Leben, wer doch mal entlassen wird, kann »draußen« keine Wurzeln mehr schlagen und kehrt alsbald zurück.
Der Verein »Die Brücke« war nach seiner Gründung 1978 die erste Institution, die die Betreuung chronisch psychisch Erkrankter in Wohngemeinschaften außerhalb der Klinik anbot. Mittlerweile betreut der Verein sechs Wohngemeinschaften mit insgesamt 38 Plätzen, eine weitere Wohngemeinschaft ist für Anfang nächsten Jahres geplant. Hier, so die Betreuerin Renate Nickell, »wird die Balance zwischen Nähe und Distanz geprobt«. Von Sozialarbeitern und Psychologen betreut werden die BewohnerInnen nur sechs Stunden am Tag. »Es geht darum«, erläutert Geschäftsführer Klaus Zündel, »daß diese Menschen mit ihrer Krankheit innerhalb der Gesellschaft leben lernen.« Jeder Bewohner hat seinen Privatraum und versorgt sich selbst. Allein oder zunächst mit Hilfestellung nehmen die hier lebenden Menschen nach und nach Kontakte mit der Nachbarschaft und Umgebung auf. Ziel ist, den Klinikaufenthalt wieder zu dem zu machen, was er ist: ein Ort der Krisenintervention, von wo aus aber man jederzeit wieder nach Hause, in die WG, zurückkehren kann.
Dies stellte sich auch auf der am Wochenende stattgefundenen Tagung zur »Enthospitalisierung chronisch psychisch Kranker« als größter Knackpunkt heraus. Darüber hinaus fehle es an Vertrauenspersonen und ambulanten Diensten.
Die Tagung war auch Erfahrungsaustausch zwischen Ost und West. Klaus Zindel: »So gut oder schlecht die Strukturen drüben waren — die Kranken waren daran gewöhnt.« Jetzt aber verändere sich alles und stoße deshalb — nicht nur, aber insbesondere — psychisch Kranke in eine akute Krise. Die TagungsteilnehmerInnen befürchten jedoch, daß neben der Vereinigung Deutschlands und ihrer Kosten für diese Menschen weder Geld noch Platz übrig bleibt. »Diese Menschen dürfen nicht wieder außen vor bleiben«, warnt Renate Nickell und gibt zu bedenken: »Es kann wirklich jedem passieren!« maz
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