: Bäuerliche Ikonen
Die Kunsthistorikerin Noemi Smolik spürt in zwölf Einzelstudien den antiwestlichen Wurzeln der russischen Avantgarde nach
Von Brigitte Werneburg
Nach dem Ende der Sowjetunion gab es kurz die Möglichkeit bis dahin unzugängliche Schriften und Archivalien zu studieren. Die Kunsthistorikerin Noemi Smolik nutzte diese Gelegenheit, denn sie vermutete hinter dem in der Kunst des Sozialismus erhobenen Vorwurf des Formalismus etwas Grundsätzlicheres – weit mehr, als nur die Sanktionierung der Weigerung, im Stil des Realismus des 19. Jahrhunderts zu malen. Smolik zufolge ist es die „andere, russische Moderne“, in der Lenin und die Kommunistische Partei unter Stalin einen Angriff auf die Grundpfeiler des Marxismus erkannten.
Ihre These entwickelt die Autorin in zwölf Kapiteln in Form gründlich ausgearbeiteter Einzelstudien, die jeweils mit der am 19. Dezember 1915 eröffneten „Letzten futuristischen Bilderausstellung“ beginnen. Hier sorgte Kasimir Malewitschs Viereck, später als „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ berühmt, für Aufsehen.
Smolik zufolge ist die schon damals in Deutschland, Frankreich, Italien oder Holland mit großer Aufmerksamkeit und Zustimmung rezipierte „russische Avantgarde“ keineswegs Teil des Kanons der klassischen Avantgarde, wie oft behauptet. Mit Vordenkern wie Dostojewski und dem Philosophen Wladimir Solowjow fand sich die russische Avantgarde über die Kritik des westlichen Rationalismus und der westlichen Philosophie zusammen, und über die Abwendung von den Kunstströmungen der europäischen Moderne. Es handelt sich, wie Smolik zeigt, um eine „bewusste, sozial motivierte Auflehnung gegen das von Westeuropa ausgehende, hegemonial ausgerichtete Streben der Moderne.“ Wie Natalja Gontscharowa und Michail Larionow 1913 in ihrem Manifest „Lutschisten und die Zukünftler“ schreiben: „Wir sind gegen den Westen, der unsere östliche Form verflacht und der alle Dinge ihres Wertes beraubt.“
Sie sehen sich mit ihrer Kunst den spirituellen Traditionen der russischen Volkskultur verbunden, den bäuerlichen Legenden, Ritualen, Märchen, Liedern und Tänzen. Als malerische Setzung einer eigenen Wirklichkeit ist vor allem die christlich-orthodoxe Ikone Vorbild und Inspiration für Künstler:innen wie Natalja Gontscharowa, Wladimir Tatlin, Kasimir Malewitsch, Nikolaj Punin, aber auch Sergei Djagilew und Wassily Kandinsky. Die Ikone kennt weder Mimesis noch Zentralperspektive, was bei der Entwicklung der Abstraktion in Futurismus, Suprematismus, Konstruktivismus, oder der von Welimir Chlebnikow inspirierten Zaum-Kunst eine wesentliche Rolle spielte, wie Smolik überzeugend darlegen kann.
Noemi Smolik: „Malewitschs Ohrfeige dem modernen Geschmack. Die andere, russische Moderne“. Matthes & Seitz, Berlin 2025, 488 Seiten, 16 farbige Abb., 38 Euro
Dass Malewitsch, mit dessen „Schwarzen Quadrat auf weißem Grund“ die gegenstandslose Kunst ihren ersten Auftritt hatte, am Ende seiner Karriere realistische Porträts bäuerlicher Personen malte, wird allgemein dem wachsenden Druck der Doktrin des Sozialistischen Realismus zugeschrieben. Dem widerspricht Noemi Smolik. Sie sieht Malewitschs Malerei einen Kreis durchlaufen, „der bewusst den Glauben an einen Fortschritt in der Kunst ad absurdum führt“. Sie argumentiert mit Details wie der Signatur, die er in diesen Porträts durch ein weißes Viereck ersetzt, oder mit dem schwarzen Viereck im Hintergrund des Porträts seines Freunds Semjon Andrejewitsch. Mit diesen bewusst gesetzten Zeichen bekräftigt Malewitsch sein Credo, immer auf der Seite der bäuerlichen Kunst zu sein.
Die Verachtung der russischen Eliten gegenüber den Bauern und ihre Unwissenheit über deren Leben – wie sie das ihnen nach Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 übereignete Land kollektiv in ihren Dorfgemeinschaften bewirtschafteten, in denen sie auch für Gesundheit, Rechtsprechung, Bildung und Handel verantwortlich waren – behandelt die Autorin im Rückgriff auf postkoloniale Theorien. Auch wenn es gewöhnungsbedürftig ist, die Bauern als „indigene Bevölkerung“ und als „einheimische Informanten“ der Künstler:innen zu sehen, ist dieser Ansatz nicht unplausibel. Allerdings werden mit ihm die historischen Lasten doch sehr eindeutig verteilt: Auf der einen Seite die gut- und tiefgläubige Landbevölkerung und die mit der Theologie der orthodoxen Ikone verbundenen Künstler:innen, auf der anderen Seite die Kolonialisten, die westlich-rationalistisch und atheistisch geprägte urbane russische Bildungs- und Politelite.
Inzwischen liest man, dass die während der Sowjetunion auf grausame Weise aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängte „Andere Moderne“ in den großen Moskauer und Petersburger Museen Klassikerschauen mit Karl Brjullow, Boris Kustodiew oder Alexander Deineka weichen muss. Böse Ironie: Gleichzeitig beansprucht der Künstler Dmitri Chworosto, mit seiner „dunklen“ Ästhetik die antirationalen, mystischen und spirituellen Elemente der Volkskultur zu neuen Ehren bringen zu wollen. Der Sohn des ultranationalistischen Ideengebers Putins, Alexander Dugin, erklärt das liberale Projekt eines aufklärerischen Universalismus für glücklicherweise gescheitert.
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