BUNDESTAG VERABSCHIEDET RENTENREFORM: Das Ende alter Verteilungsmythen
Testfrage: Was bedeutet die Rentenreform für die Bürger? Antwort: Es gibt erstens künftig weniger gesetzliche Rente, obwohl man zweitens ziemlich viel Beiträge einzahlen muss. Fürs private Sparen gibt es drittens bald ein bisschen staatliche Zuschüsse. So klar, so einfach – und so unvollständig könnte man die gestern verabschiedete Rentenreform beschreiben. Mindestens ebenso bedeutsam wie das Ergebnis sind nämlich die kulturellen Folgen des jahrelangen Rentenstreits: Die Reform der Alterssicherung bedeutet einen kleinen Abschied vom Glauben an die herrschenden Kollektivsysteme sozialer Sicherung. Damit aber werden politische Hoffnungen in Frage gestellt, inwieweit sich durch diese Systeme überhaupt mehr Gerechtigkeit herstellen lässt – oder ob nicht durch die Struktur etwa des Rentensystems allein schon Ungerechtigkeiten heraufbeschworen werden. Genau das war die eigentliche Frage, die im Rentenstreit heimlich mit verhandelt wurde.
Wenn Gerechtigkeit bedeutet, dass man auf gar keinen Fall bei den Schwachen kürzen darf, dann ist dieses Anliegen durch den Streit um Beitragshöhen und Rentenniveaus nicht lösbar gewesen. Die „Schwachen“, das waren viele Jahrzehnte lang in der Bundesrepublik vor allem die Alten, die Rentner. Nur: Sie sind es längst nicht mehr. Im Durchschnitt könnten die heutigen Rentner stärkere Rentenkürzungen vertragen, als sie die jetzt verabschiedete Rentenreform vorsieht. Wenn, ja, wenn es nicht die Älteren am unteren Rande gäbe. Jene Ruheständler, für die jede Rentenminderung empfindlich zu Buche schlägt. Im Rentenstreit überlagern sich somit zwei Verteilungsfronten: der Ausgleich zwischen wenigen jüngeren Beitragszahlern und vielen älteren Rentnern und der Ausgleich zwischen Wohlhabenderen und Ärmeren. Die Widersprüche, die sich daraus ergeben, sind im herrschenden Rentensystem nicht lösbar.
Genau wegen dieser Überlagerung der Fronten wirkten viele Gegner der Rentenreform so unglaubwürdig. Auch die Gewerkschaften konnte keine klaren politischen Fronten aufbauen, ohne sich unbeantwortbare Fragen nach den Verlierern und Gewinnern stellen zu müssen. Die neue Rentenformel ist deshalb nichts anderes als ein vager Kompromiss – mit wahrscheinlich ohnehin begrenztem Haltbarkeitsdatum.
Künftige Gerechtigkeitsfragen dürfen sich nicht mehr allein an der Frage entscheiden, wie sich denn in den herrschenden Kollektivsystemen das Verhältnis von Einzahlern und Leistungsempfängern gestaltet. Das hat die Rentendebatte gezeigt. Künftig stellt sich die Frage: Wer ist „schwach“? Wer steht draußen? Da allerdings hat die Rentenreform – indirekt – schon eine Antwort gegeben. Die künftigen Schwachen sind jene, die (wenn überhaupt) eine nur geringe Rente bekommen und kaum Geld zurücklegen können: Alleinerziehende, hoffnungslos Überschuldete, gescheiterte Kleinunternehmer oder Langzeitarbeitslose. Für Minirentner soll es möglicherweise eine Mindestsicherung geben – wenn der Bundesrat zustimmt. Diese automatische Aufstockung der Minirenten könnte sich in wenigen Jahrzehnten vielleicht zum eigentlichen Erfolg der Rentenreform entwickeln. Eine solche Mindestsicherung wäre doch schon was.
BARBARA DRIBBUSCH
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