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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Der personifizierte Appetitzügler

Meine Tante arbeitet für eine Partei. Früher haben wir nicht über Politik gesprochen. Jetzt ist alles anders

Verwandtschaft und Politik sollte man tunlichst trennen. Mit Tanten und Onkels bei Kaffee und Kuchen, Schweinebraten oder Leipziger Allerlei über die Regierung zu reden, ist total absurd. Das ist so, als wenn man vor dem Essen einen Appetitzügler nehmen und sich dann wundern würde, wenn es nicht schmeckt.

Ich habe eine Tante, mit der ich wahnsinnig gern über ihre Arbeit reden würde. Aber das geht nicht. Weil wir dann auch über Politik reden müssten. Denn sie steht bei einer Partei in Lohn und Brot. Meine Tante ist stellvertretende Geschäftsführerin eines Landesverbandes in einem der neuen Bundesländer und sehr loyal gegenüber ihrem Arbeitgeber. Das ist verständlich. Außerdem beträgt die Arbeitslosenquote in der Landeshauptstadt 23 Prozent.

Dabei habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Tante. Das Fundament dazu wurde vor vielen Jahren gelegt, als sie mir zur Jugendweihe meinen größten Traum erfüllte und mir eine Levis schenkte, ein Paar wunderbar ausgewaschene Röhrenjeans. Für meine Tante war es nicht schwer, die zu organisieren. Sie hatte Verwandtschaft im Westen und war bestens versorgt.

Ich fand das Familienleben meiner Tante immer sehr aufregend. Ein Onkel lebte im fernen Australien. Ihre Schwester lebte zeitweise im Gefängnis, weil sie Leute kannte, die eine Republikflucht planten. Ihrer Tochter verbot sie, bei den Jungen Pionieren Mitglied zu werden. Ich fand, dass meine Tante vollkommen zu Recht auf die DDR schimpfte, und habe mich immer gewundert, warum sie keinen Ausreiseantrag gestellt hat.

Als dann die Mauer fiel, hab ich mich noch mehr gewundert. Statt sofort ihre Westverwandtschaft zu besuchen, setzte sie sich mit ihrem Mann, dessen Bruder und dessen Frau zusammen. Das Quartett diskutierte nächtelang, ob sie weitermachen sollten wie bisher – nur schimpfen gegen den Staat und über das, was andere machen – oder ob sie nicht selbst Politik machen sollten. Sie entschieden sich für die zweite Möglichkeit und traten, obwohl die Vielfalt im Unterschied zu vorher angewachsen war, alle der gleichen Partei bei. Mich hat das schwer beeindruckt. Plötzlich lenkte ein Teil meiner Verwandtschaft die Geschicke des wiedervereinigten Deutschlands.

Jedes Mal, wenn meine Tante beruflich in der Hauptstadt zu tun hat, treffen wir uns. Weil sie die Kasse ihrer Partei, die unter Mitgliederschwund leidet, nicht unnötig belasten will, übernachtet sie dann immer bei mir. Meistens trinken wir ziemlich viel Wein und reden über alles Mögliche. Nur eben nicht über Politik.

Es ist schon lustig, wie sich manche Dinge wiederholen. Zu DDR-Zeiten hatte ich einen Onkel, mit dem man auch nicht über seinen Arbeitgeber reden konnte. Auf keiner Hochzeit, keiner Beerdigung, keiner Jugendweihe. Er sorgte im Auftrag des Staates für Sicherheit. Alle wussten das. Doch es gab ein stillschweigendes Abkommen, dass wir ihn in Ruhe ließen und er keine Berichte über uns schrieb. Der Onkel ist längst im Ruhestand. Meiner Tante fehlen noch einige Jahre bis zur Pensionierung. Trotzdem reden wir plötzlich über Politik. Weil es Neuwahlen geben soll.

Vor wenigen Tagen hat sie mir auf den Anrufbeantworter gesprochen und gefragt, ob sie Anfang Juni bei mir übernachten kann. Gestern habe ich zurückgerufen. „Wirst du jetzt arbeitslos?“, fragte ich besorgt. Sie lachte nur. „Wird Angela Merkel deine neue Chefin?!“, zog ich sie auf. „Das wollen wir doch nicht hoffen“, sagte sie und lachte wieder. Sie verriet mir, dass es ein großer Unterschied sei, für eine lang geplante Wahl Plakate zu kleben oder hoppladihopp und noch dazu formal richtig Kandidaten zu küren. Ganz zu schweigen von der Wahlkampffinanzierung. „Wir müssen jetzt erst mal sehen, wie viel bisher angespart ist.“

„Schon gut, schon gut“, beruhigte ich sie. „Du kannst bei mir übernachten.“ Schließlich ziehen wir jetzt an einem Strang.

Sie will Angela Merkel nicht als Chefin. Ich will Angela Merkel nicht als Kanzlerin. Dieser personifizierte Appetitzügler ist zwar auch aus dem Osten. Aber sie ist keine von uns.

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