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Autoritäre Wende in der TürkeiErdoğans riskanter Schachzug

Gastkommentar von Nedim Türfent

Die Verhaftung İmamoğlus könnte den türkischen Präsidenten teuer zu stehen kommen. Die Massenproteste bringen seine Herrschaft ins Wanken.

Es bleibt abzuwarten, ob Erdoğans Schachzug wirklich aufgeht oder die Unterdrückten nun wirklich die Nase voll von ihm haben Foto: Francisco Seco/dpa

P räsident Recep Tayyip Erdoğan, der die Türkei seit fast einem Vierteljahrhundert regiert, ist von seinem anfänglichen Kurs hin zu demokratischen Reformen abgekommen. Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz, Grundrechte und -freiheiten sind dramatisch ausgehöhlt worden. 2017 machte Erdoğan aus dem parlamentarischen System ein Ein-Mann-Regime und regiert seither mit zunehmend autoritärem Griff.

Die türkische Verfassung hält maximal zwei Amtszeiten für den Präsidenten fest, aber Erdoğan hat ganz offensichtlich nicht die Absicht, auf absehbare Zeit zurückzutreten. Ob der Oberste Wahlrat (YSK) weitere Kandidaturen genehmigen oder ablehnen würde, spielt dabei keine Rolle. Alles hängt allein von Erdoğan ab. Seit Jahren gilt in der Türkei die Herrschaft des Mächtigen und nicht die Herrschaft des Rechts.

Nedim Türfent

ist kurdischer Journalist aus der Türkei. Er saß über sechs Jahre in der Türkei im Gefängnis, nachdem er über die Misshandlung kurdischer Bauarbeiter durch die Polizei berichtete. Die kurdische Nachrichtenagentur Dicle Haber Ajansı, für die er gearbeitet hatte, wurde 2016 verboten.

Erdoğan könnte sogar den Ausnahmezustand ausrufen und die Wahlen ganz absagen. Vermutlich würde er das auch tun. Letztlich scheint seine gesamte Strategie auf eine „Präsidentschaft auf Lebenszeit“ ausgerichtet zu sein, genau wie bei seinem Verbündeten Wladimir Putin. Erst vor wenigen Tagen erklärte er offen: „Solange Gott mir das Leben schenkt, werde ich dienen.“

Indem er die Möglichkeit einer Wahlniederlage nun durch juristische Manöver ausschließt, geht Erdoğan das vielleicht größte Risiko seiner politischen Karriere ein. Ekrem İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP), Istanbuls Oberbürgermeister und aussichtsreichster Gegenkandidat Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen 2028, ist seit einer Woche politischer Gefangener im berüchtigten Silivri-Gefängnis.

Dort sitzen bereits Oppositionspolitiker, Abgeordnete, Bürgermeister, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und sogar Wahrsager und Astrologen. Allein in den vergangenen Tagen sind mehr als 1.000 Menschen verhaftet worden.

İmamoğlu gelang es, breite Teile der Gesellschaft hinter sich zu versammeln: Demokraten, Linke, Kurden, Konservative und Nationalisten wählten ihn wiederholt ins Istanbuler Rathaus. Ein gängiges Sprichwort in der türkischen Politik lautet: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.“ Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Wer Istanbul verliert, verliert oft auch das Land.

Erdoğan, ein gewiefter politischer Veteran, erkannte die Bedrohung früh und griff seinen starken Gegner mit den Waffen der Justiz an. Während Erdoğans eigener Universitätsabschluss seit Jahren in Frage gestellt wird, wurde İmamoğlus Universitätsabschluss kurzerhand für ungültig erklärt. Nach türkischem Recht muss ein Präsidentschaftskandidat einen Hochschulabschluss haben.

Dieser jüngste dreiste Schachzug ist neuer Höhepunkt der autoritären Wende in der Türkei

Die Annullierung eines 35 Jahre alten Diploms hat weitreichendere Bedenken ausgelöst: Jetzt sind die verbrieften Rechte eines jeden in Gefahr. Anwaltslizenz, Universitätsabschluss, Hausurkunde und Heiratsurkunden – nichts ist mehr sicher. Das Ausmaß der Willkür ist erschreckend.

Seit Jahren versucht sich das Erdoğan-Regime durch Manipulation der Justiz zu holen, was es an den Wahlurnen nicht gewinnen kann. Dieser jüngste dreiste Schachzug kann als neuer Höhepunkt der autoritären Wende in der Türkei angesehen werden. Dank İmamoğlus integrativem und hoffnungsvollem Wahlkampf ging die CHP aus den Kommunalwahlen vom 31. März 2024 zum ersten Mal seit 47 Jahren als führende Partei der Türkei hervor.

Dieser historische Sieg signalisierte, dass Erdoğans Machtposition schwächer wird. Die öffentliche Unterstützung für Erdoğan hat aufgrund der wirtschaftlichen Verwüstung, der Gesetzlosigkeit und des Autoritarismus stetig abgenommen. Weniger als ein Jahr nach den Kommunalwahlen hat die Regierung bereits neun Bürgermeister der prokurdischen DEM-Partei und sechs Bürgermeister der CHP abgesetzt und an ihrer Stelle staatliche Treuhänder eingesetzt.

Die meisten der abgewählten Bürgermeister wurden verhaftet. Ohne größeren Widerstand. Nach der Verhaftung von İmamoğlu gingen jedoch Tausende von Universitätsstudenten in Istanbul auf die Straße und unterbrachen die Rede des CHP-Vorsitzenden Özgür Özel mit Sprechchören wie „Vergesst die Wahlurnen, kommt auf die Straße“.

Angeführt von jungen Menschen haben sich die Proteste und Märsche über weite Teile der Türkei ausgebreitet. Die größte Demonstration fand in Saraçhane, in der Nähe des Istanbuler Rathauses, statt. Kommentatoren bezeichneten die Verhaftung von İmamoğlu als kalkulierten politischer Schachzug Erdoğans. Bei der landesweiten Abstimmung über den Präsidentschaftskandidaten der CHP trat İmamoğlu als einziger Kandidat an und erhielt fast 15 Millionen Stimmen.

Noch darf İmamoğlu kandidieren

Solange kein endgültiges Urteil gegen ihn ergeht, darf İmamoğlu weiterhin kandidieren. Allerdings sind mehr als zehn Verfahren gegen den 54-jährigen Parteichef anhängig, und auch die Annullierung seines Diploms muss aufgehoben werden, damit seine Kandidatur endgültig ist.

An seinem ersten Tag im Gefängnis wurde İmamoğlu zum Präsidentschaftskandidaten seiner Partei gewählt, und das nächste Kapitel seiner politischen Karriere hängt nun von der künftigen Strategie der CHP ab. Parteichef Özel sprach im Verlauf einer Großdemonstration von einem Putschversuch, der abgewehrt werden müsse, um Wahlen möglich zu mache.

Wird Erdoğans riskanter Schachzug den Beginn seines Untergangs markieren? Oder wird er den Weg für eine Diktatur im Stile Putins ebnen? Eines ist klar: Der 23. März wird als ein Wendepunkt in die politische Geschichte der Türkei eingehen. Die Opposition hat in den letzten Tagen ein Licht am Ende des Tunnels erblickt: Das Volk, angeführt von der Jugend, fordert seine Rolle als aktiver politischer Akteur zurück. Wenn es der Opposition gelingt, diese Energie in die richtige Richtung zu lenken, sieht die politische Zukunft von Erdoğan alles andere als rosig aus.

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5 Kommentare

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  • Wenn 's doch nur schon wahr wäre:



    ...seine Herrschaft ins Wanken...

  • "Erdoğan könnte sogar den Ausnahmezustand ausrufen und die Wahlen ganz absagen. Vermutlich würde er das auch tun. ... „Solange Gott mir das Leben schenkt, werde ich dienen.“"



    Das ist mir klar: Putin und Erdoğan wollen bis an ihr Lebensende mit 96 Jahren herrschen.



    Genau das ist wichtig: wie sehen die Szenarien der weiteren Entwicklung aus?



    Welche Strategien sollte und wird die heterogene Opposition ergreifen und wie kann Erdoğan gestürzt werden?



    Welchen Plan haben die EU-Regierungen Erdoğan zu stürzen?

    • @Land of plenty:

      Die EU scheint mit Erdogan gut leben zu können.

  • Jeder/jede,



    - der/die dieses schöne Land



    mit seinem wunderbaren Menschen liebt, fiebert in diesen Tagen,



    man hält den Atem an und



    und leidet mit ihnen.

    • @Konfusius:

      Ich halte es da mehr mit Gustav Heinemann:



      "„Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!"

      Mir ist nationalistischer Pathos zu rechts.

      ( Damit will ich nicht behaupten, Sie wären rechts.)

      Mitfiebern kann ich trotzdem.