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Autoritäre Pädagogik Noch immer gibt es Kinderheime, die mit einem Punktesystem angepasstes Verhalten erzwingen. Vorbild sind Lager in den USA, in denen Jugendliche mit militärischer Disziplin umerzogen werden solltenDie Bootcamp-Methode

Schon beim Abholen seien die Mitarbeiter sehr unfreundlich gewesen, berichtet eine ehemalige Insassin des mittlerweile geschlossenen Friesenhofheims „Nana“  Foto: Zeichnung: Imke Staats

von Kaija Kutter

In dem im Juni geschlossenen Mädchenheim „Nana“ des schleswig-holsteinischen Unternehmens Friesenhof soll es ein Punktesystem gegeben haben. Jeden Tag konnte ein Mädchen bis zu fünf Minus- oder Pluspunkte sammeln: Für zehn Pluspunkte gab es „kleine Belohnungen wie ein Tagebuch oder spezielle Hygieneartikel (Schminke)“. Für 50 Punkte einen „begleiteten Kinobesuch“.

So steht es zumindest in einem Konzeptpapier, Stand 2013, das dem Hamburger Sozialarbeits-Professor Timm Kunstreich vorliegt. Im Umkehrschluss lässt dies ahnen, dass ein Mädchen zu Beginn seines Heim­aufenthalts nicht über persönliche Dinge wie Schminke verfügen konnte. Das bestätigen auch Betroffene. „Ich hatte nichts mehr. Ich hatte nicht mal mehr meine eigenen Gegenstände“, berichtet Ex-Insassin Rebecca dem NDR-Magazin Panorama. Und Ex-Insassin Lea-Marie berichtete im Juni gegenüber der taz: „Die haben mich gefilzt und mir alles weggenommen. Die Musik, Sachen von zu Haus. Die Betreuer haben einen nur runtergemacht, schikaniert, ausgelacht, gemobbt.“

Die Pädagogik im Haus beinhalte „konfrontative Elemente“, heißt es im Nana-Konzept. Die Bewohnerinnen würden „ständig in ihren Verhaltensweisen reflektiert“. Die heute 20-jährige Lea-Marie beschreibt das so: „Die haben sich da 24 Stunden um einen gewickelt.“ Lea-Marie weiter: „Die Betreuerin meinte, dass es ihr Ziel ist, unseren Willen zu brechen und so aufzubauen, wie die Gesellschaft uns gerne hätte. Und dass sie all das pädagogisch begründen können.“

Heim Nana galt als erste Stufe mit den strengsten Regeln im Friesenhof-Konzept. Es folgten nach sechs bis neun Monaten Haus Charlottenhof und später weitere Häuser. „In Charlottenhof konnte man raus, wenn man es sich verdient hatte“, erinnert Lea-Marie. Doch dies sei an Punktezahlen geknüpft gewesen, die sie fast nie erreicht habe.

Das Haus war für die 15 Bewohnerinnen in „drei Bewährungsbereiche“ mit unterschiedlichen Freiheitsgraden eingeteilt. „Es gibt Punkte nicht nur für die messbare Einhaltung von Regeln und Pflichten, bewertet wird auch der psychosoziale Bereich des Umgangs mit sich selbst und anderen“, heißt es in einem Konzeptpapier, das im Juni-Protokoll des Hamburger Familienausschusses nachzulesen ist. Ein Mädchen konnte zwischen den Bereichen auf- und absteigen.

Die im Friesenhof angewandte Methode heißt in der Sozialpädagogik „Phasenmodell“. Der Hamburger Sozialarbeits-Professor Timm Kunstreich spricht von einer „Technologie des Stufenvollzugs“, die von Bootcamps in den USA, also Umerziehungslagern für straffällige Jugendliche, und „behavioristischen Dressurexperimenten“ inspiriert sei. Findige Professionelle fänden dafür ständig neue Vokabeln, doch die Grundform sei stets die gleiche: In der Eingangsstufe würden den Kindern und Jugendlichen Verhaltensvorschriften für die neue Situation bekannt gemacht, einschließlich der dazugehörigen Sanktionen. Diese Vorschriften seien immer „belastend und entwürdigend“. In der zweiten Stufe werde der Regelkatalog zwar gelockert, doch bei Verstößen sei eine Rückkehr auf die vorherige Stufe vorgeschrieben. Und auch in der dritten Stufe, der „Normalphase“, sei noch eine Rückstufung möglich. Das gesamte Setting verlange von allen Beteiligten eine strikte Befolgung der Regeln. Es entwerte die Kinder und Jugendlichen in ihrer „personalen und sozialen Identität“ und presse auch die Fachkräfte in einen „schematischen Ablauf“, der ihrem professionellen Selbstbild widerspreche, so Kunstreich.

Der Wissenschaftler sieht in einem solchen Vorgehen einen Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention und will nun zusammen mit Kollegen vom „Arbeitskreis kritische Sozialarbeit“ die Selbstdarstellungen von Heimen im Internet analysieren. Die Befunde will er an den „UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes“ senden, damit die Bundesregierung sich dazu positionieren muss.

Die kritischen Sozialarbeiter vermissen eine Beteiligung der Kinder am Aushandeln der Regeln, sie würden nur als Objekte, nicht als Subjekte behandelt. Die Erklärung, dass es sich hier um besonders schwierige Kinder handele, gelte nicht. „Es gibt keine schwierigen Jugendlichen. Es gibt nur schwierige Situationen“, so Kunstreich. Da die Wirkungen von Heimerziehung insgesamt schädlich sei, plädiert er dafür, sie ganz abzuschaffen und stattdessen besser „zuzuhören“.

Sucht man Pädagogen, die den „Stufen-Vollzug“ verteidigen, wird man nicht so schnell fündig. Sogar ein Vertreter der Konfrontativen Pädagogik wie Professor Jens Weidner von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg erklärt, er habe zum Thema Heim­erziehung „keine Expertise“. Konfrontative Pädagogik finde „primär ambulant oder im schulischen Kontext“ statt.

Allerdings gab es durchaus mal eine Debatte um konfrontative Heimpädagogik. 1999 planten Investoren in Thüringen eine Einrichtung für 800 bis 1.000 Jugendliche nach dem Vorbild der amerikanischen Glen Mills School. Insbesondere Jugendrichter befürworteten diese Idee als Alternative zum Jugendgefängnis. Die Grundidee war, dass sich die Insassen zahlreichen Regeln unterordnen sollten, um alte schädliche Verhaltensweisen zu verlernen und offen zu sein für neues „pro soziales Verhalten“. Schon kleinste Verstöße sollten geahndet werden, egal, ob die Regeln sinnvoll erscheinen oder nicht.

Auch wenn von der Großeinrichtung Abstand genommen wurde, nachdem das Deutsche Jugendinstitut in München eine kritische Expertise dazu abgab, sind Elemente dieser Philosophie noch immer in Heimen zu finden, wie das Beispiel der Friesenhof- und Haasenburg-Heime gezeigt hat. In Mecklenburg gibt es ebenfalls ein Heim, das nach einem Konzeptpapier von 2014 mit einem Belohnungssystem für angepasstes Verhalten arbeitet. Pro Tag gibt es dort zwei Chips, die bei Verstößen weggenommen werden – etwa wenn ein Jugendlicher nach drei Aufforderungen nicht morgens um 6 Uhr aufsteht. Wer die Chips behält, erhält Vergünstigungen.

Hamburgs Jugendämter haben die Mädchen mit Kenntnis der Konzepte in den Friesenhof geschickt. Bei Jugendlichen, die „völlig out of control“ seien, könne nicht allein Beziehungsarbeit helfen, sagte ein Jugendamtsleiter im Familienausschuss der Bürgerschaft. „Das muss man auch über Normen machen.“

Ein Mädchen im Friesenhof habe sich beschwert, dass sie sich dort „ganz unwohl“ fühle und Betreuer anderen Bewohnern gegenüber handgreiflich geworden wären, sagte der Jugendamtsleiter. Aus diesen Schilderungen leitete das Jugendamt aber keine Kindeswohlgefährdung ab.

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