Autor Roland Seidl über Schule: "Der Gleichschritt ist das große Übel"
Schulen leiden unter der Methode "Gleichschritt": Alle das Gleiche in der gleichen Zeit. Eine Änderung der Lernkultur ist jedoch schwierig, sagt der Lehrer und Buchautor Roland Seidl.
Herr Seidl, Hamburgs Bürger haben sich klar gegen die Reform der Grundschule ausgesprochen. Haben Sie sich getäuscht damit, dass ein Totalumbau der Schulen nötig ist?
Roland Seidl: Die Bereitschaft zu einem radikalen Schnitt ist bei den Menschen offenbar noch nicht da, das stimmt. Dennoch glaube ich fest daran, dass es so nicht weitergehen kann. In unseren Schulen herrscht heute eine Kultur des Drucks und der Ausgrenzung, mit der niemand zufrieden ist.
Warum wenden sich die Eltern dann gegen sachte, aber richtige Modernisierungen wie in Hamburg?
Die Bürger dort haben sich meines Erachtens nicht gegen eine innere Schulreform gewandt, sondern sie haben ihr Gymnasium beschützt. Wer heute das Gymnasium angreift, der holt sich ein blaues Auge. Die Hamburger haben sich dagegen gewehrt, dass man ihnen zwei Jahre Gymnasium wegnimmt. Das war der Punkt. Sie wollten ihre Vorteile behalten.
Noch mal zurück zum Grundsätzlichen: Was läuft schief an den deutschen Schulen?
Es herrscht zu viel Druck. Und das liegt in den Noten begründet. Wenn ein Schüler im Leben weiterkommen will, braucht er gute Noten. Und die versucht er mit möglichst geringem Aufwand zu bekommen. Daraus ergibt sich eine grundsätzlich problematische Grundhaltung der Schüler und der Eltern, die das Interesse an dem zu Lernenden in den Hintergrund und die Note in den Vordergrund rückt.
Roland Seidl, Jg. 1952, ist Lehrer und Autor des Buchs "Reißt diese Schulen ein! Wege aus der Bildungskrise" (Kösel 2009, 17,95 Euro). Er ist seit 1977 im Schuldienst. Seit 1998 kennt Sl integrierende Lernmethoden aus der Nähe - er arbeitet an einer Gesamtschule. Er war in der Lehrerfortbildung tätig und entwickelte Software für den Unterricht. Seidl lebt in Bad Camberg, Hessen.
Der Hamburger Volksentscheid hat nicht nur die sechsjährigen Primarschulen gestoppt, er ist auch ein Schlag gegen andere Formen des Lernens. Die Diskussion geht weit aber über die Hansestadt hinaus. In ganz Deutschland arbeiten Schulreformer und die Politik angesichts des großen Schulsterbens daran, wie man gemeinsames Lernen organisieren kann. Nur so ließe sich das Zurücklassen und frühe Aussortieren von Kindern vermeiden - das Hauptproblem der deutschen Schule mit durchschnittlich 20 Prozent Risikoschülern. Die Krux ist, dass alle über neue Lernformen reden, aber nur wenige wissen, wie das Lernen des 21. Jahrhunderts aussieht. Rund 100 Schulen in Deutschland beherrschen das individuelle und selbstständige Lernen - mit Wochenplänen, Freiarbeit und großen echten Lernprojekten, bei denen die Kinder viele Mitsprachemöglichkeiten haben. Zuletzt machte erneut der Schulpreisträger der Bosch-Stiftung Furore: die Sophie-Scholl-Schule in Hindelang (Bayern) hat Hauptschule, Realschule und Gymnasium unter einem Dach. Wie das geht? Mit einem Konzept radikal individuellen und selbstständigen Lernens. http://tiny.cc/scholl
Worin liegt das Missverständnis genau?
Die Leute denken, dass eine gute Schule eine harte Schule ist, in der von der Gruppe viel verlangt wird. Und zwar von allen das Gleiche. Das große Ziel ist, dass alle Schüler mitkommen, wie wir es gern sagen. "Hauptsache, du kommst mit", predigen die Eltern ihrem Kind. Für viele wird es zu einer Qual, sie kommen nur unter größter Mühe mit, und die Eltern wissen nicht, was sie ihnen antun
Diese Methode hat über Jahrhunderte irgendwie funktioniert. Warum jetzt nicht mehr?
Die Kinder haben sich geändert, aber die Schule ist gleich geblieben. Wir haben in der ersten Klasse heute ein sehr weites Leistungsspektrum. Es gibt Schüler, die können lesen, schreiben, rechnen. Aber es gibt welche, die werden das auch nach drei Jahren noch nicht richtig können.
Was könnte man tun, um allen besser zu helfen?
Wir sollten die Grundschule viel flexibler gestalten. Man sollte sagen: Jeder Grundschüler muss drei Jahre da sein, aber wer fünf Jahre braucht, um sich gute Grundlagen für die weiterführende Schule zu erarbeiten, der braucht eben fünf.
Und die Schüler, die nur drei Jahre da sind?
Es kommen Kinder in die Grundschule, die schon viel können. Warum sollen die nicht Gas geben dürfen?
Ja, aber wie macht man das denn: Die Langsamen nehmen sich Zeit, die schnelleren geben Gas - und trotzdem bleiben die Kids in einer Klasse?
Das ist die große Kunst und zugleich der Kern des neuen Lernens. Es geht darum, die schwachen Kinder an die Inhalte heranzuführen und dennoch die, die schon vieles können, nicht zu langweilen. Durch Lernen im Gleichschritt gelingt das nicht, das ist klar. Denn der Gleichschritt ist das eigentliche Übel unserer Schulen.
Warum?
Weil dabei vorprogrammiert ist, dass die einen Kinder das Interesse verlieren und die andern hoffnungslos überfordert sind. Schon in der Grundschule verlieren die Kinder so ihre Neugier. Mit Gleichschritt meine ich nicht nur Frontalunterricht, sondern jede Unterrichtsform, die ein Ziel setzt, das jeder zu einer bestimmten Zeit erreicht haben muss.
Kann es sein, dass sie das Gleichschrittthema zu wichtig nehmen?
Nein, das ist das Schlüsselproblem, bei dem unsere Didaktik und unsere Schulformen zusammenspielen. Ich glaube sogar, dass unsere massiven Disziplinprobleme aus der Überforderung kommen, die sich aus dem Gleichschritt ergeben. Sehen Sie sich die Gymnasien an, die nehmen heute 40 bis 50 Prozent eines Jahrgangs auf. Aber für einen Gutteil einer Gymnasialklasse ist es ganz schwer, bei den Rennpferden mitzukommen.
Also sollte man sie sitzenlassen?
Nein, das nicht! Die Methode muss sich ändern. Jeder soll in seiner Geschwindigkeit lernen.
Manche Leute nennen das Kuschelpädagogik.
Ich weiß, genau darin liegt das Missverständnis. Man will die Spreu vom Weizen trennen, also Kinder aussortieren. Die Leute finden das auch noch gut, aber das ist falsch. Das können wir uns nicht mehr leisten. Jeder einzelne soll an seine Grenze herangeführt werden, aber so, dass er es bewältigen kann, also positiv, bestärkend. Wenn Sie das mit einer ganzen Lerngruppe im Gleichschritt machen, dann brauchen Sie im übertragenen Sinne die Peitsche, Druck. Das zermürbt. Wenn Sie es aber individuell machen, dann stärkt es und bringt voran. Man hat Erfolg und nicht das Gefühl des Scheiterns.
Wie wollen Sie diese Revolution des Lernens schaffen? Viele Lehrer wissen noch nicht, was individuelles Lernen ist - und es scheint: Sie wollen es auch gar nicht wissen.
Ich weiß, dass das eine große Aufgabe ist. Aber wir dürfen dieses Ziel trotzdem nicht aus den Augen verlieren. Wir können nicht weitermachen mit unserem Pseudo- und Bulimielernen, bei dem Schüler sinnlos irgendeinen Stoff konsumieren, bis es ihnen an der Kante steht. In der Prüfung kotzen sie aus - und vergessen danach alles wieder.
In Ihrem wütenden Buch "Reißt diese Schulen ein!" sprechen Sie von einer "verdeckten Rebellion gegen das bestehende Schulsystem". Was meinen Sie damit genau?
Es herrscht eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Schulsystem. Eine Ablehnung, aus der viele Probleme entstehen: Schüler, die querschießen. Eltern, die querschießen. Klagen über Kleinigkeiten. Vandalismus.
Sie nennen das "Schulbehinderungen", also Probleme, die durch die Schule und nicht durch die Kinder ausgelöst werden.
Das dreigliedrige System fabriziert unser Schulversager weitgehend selbst. Schüler werden aufgrund ihres Verhaltens oder ihres Lernumfelds, ihres familiären Hintergrunds in die Hauptschule geschickt, auch wenn sie von ihrer Intelligenz her das Gymnasium besuchen könnten. Ich habe andererseits Kinder erlebt, bei denen Schwierigkeiten am Gymnasium vorherzusehen waren. Eltern schicken ihre Kinder trotzdem dahin - und riskieren, dass sie scheitern und in die Realschule absteigen. Manche scheitern dann erneut. Sie kommen auf die Hauptschule, fühlen sich vollends als Versager und verlassen die Schule schließlich ganz ohne Abschluss. Solche Karrieren meine ich. Sie liegen nicht im Kind, sie werden durch das System produziert.
Sie behaupten, Integrierte Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen funktionierten anders als die gegliederten Schulformen. Wo liegt der Unterschied?
In beiden Schulformen lernen die Kinder bis zur zehnten Klasse gemeinsam. In Gemeinschaftsschulen arbeiten sie außerdem individualisiert. Dadurch fällt der Stress weg, eventuell einen Kurs nicht zu schaffen. An Integrierten Gesamtschulen gibt es diesen Stress noch. Denn da lernen die Schüler in ihren Kursen noch im Gleichschritt und sind auch von der Abstufung in eine niedrigere Schulform bedroht - auch wenn sie leichter wieder in die höhere aufrücken können.
Sie gebrauchen gerne den Begriff "nachhaltiges Lernen". Was verstehen Sie darunter?
Uns Lehrer frustriert maßlos, dass man mit Schülern einen bestimmten Stoff durchnimmt. Ein Vierteljahr später will man auf den Stoff zurückgreifen und greift ins Leere. Dann frage ich mich doch: Entschuldigung, wofür habe ich denn jetzt gearbeitet? Nachhaltig ist Lernen dann, wenn das Gelernte auch nach einem Jahr noch da ist.
Herr Seidl, wie bekommt man die Schulen dazu, sich zu verändern?
Die heutigen Vorzeigeschulen sind häufig Schulen, die am Boden waren. Die Schüler liefen ihnen weg, sie standen vor der Schließung. Dann haben sich die Betroffenen zusammengesetzt. Von diesem Moment an ging in der Schule ein radikales Umdenken los. Die Veränderung kam also von innen. Das Entscheidende dürfte die innere Haltung der Betroffenen sein. Es ist sehr problematisch, so etwas von oben zu verordnen. Denn Verordnetes wird unterlaufen.
Wie kann man das Schulsystem trotzdem verändern?
Ich sehe den Weg zu anderen Schulformen darin, dass man diese in den einzelnen Schulen vor Ort vorlebt. Wir sollten Gemeinschaftsschulen einrichten, in denen eine andere Lernkultur eingeübt wird. Dort kann man zeigen, wie Kinder ohne Druck lernen, trotzdem das Ziel erreichen - und sogar besser sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“