Autor Richard Kreitner über die USA: „Die Angst hält das Land zusammen“
In den USA spitzen sich die Auseinandersetzungen zu. US-Autor Richard Kreitner spürt den spalterischen Tendenzen und neuen Ablösungstendenzen nach.
taz am wochenende: Machen wir ein Gedankenexperiment. Es ist das Jahr 2040, die Vereinigten Staaten von Amerika existieren nicht mehr. Wo würden Sie leben und wie würde das Land aussehen?
Richard Kreitner: Ich lebe in New York, ich mag die Stadt und die Menschen sehr. Wären die Vereinigten Staaten auseinandergebrochen, würde ich immer noch hier leben wollen. Vermutlich würden Kalifornien oder Texas die Union zuerst verlassen.
Warum?
Beide Staaten, auch deren Gouverneure und Mainstream-Politiker*innen, haben in den letzten Jahren mehr oder weniger laut über dieses Szenario nachgedacht. Die Geschichte zeigt, dass andere Staaten folgen, wenn einer seine Unabhängigkeit erklärt. Das haben wir aus dem Sezessionskrieg zwischen Nord- und Südstaaten von 1861 bis 1865 gelernt. Geografisch würde das Land wohl in mehrere regionale Nationen zerfallen und New York könnte eine nordöstliche Republik anführen. Ich bin kein Fan dieser Vorstellung. Im Endeffekt wäre das nur ein konfuser Prozess, um den Niedergang der Vereinigten Staaten zu verwalten.
Der Sezessionskrieg brachte die USA an den Rand der Auflösung. An welchem Punkt in der Geschichte war diese Gefahr ähnlich groß?
Zehn Jahre vor dem Sezessionskrieg hätte es beinahe einen ähnlichen Konflikt gegeben. Die Vereinigten Staaten expandierten in den Westen und die große Streitfrage war, ob die Sklaverei auch dort eingeführt werden sollte.
Was ist denn der historisch schwerwiegendste Faktor für die innere Instabilität der US-amerikanischen Union?
Besonders in der Anfangsphase der jungen Republik wirkte die Geografie des Landes destabilisierend. Nach der Revolution gegen Großbritannien, im späten 18. Jahrhundert, zogen Siedler auf die Westseite der Appalachen. Das Gebirge zieht sich im Osten der USA von Nord- nach Südosten. Um zu überleben, mussten diese Siedler Handel betreiben. Sie konnten ihre Waren aber nicht auf dem beschwerlichen Weg über die Berge schicken, an die östlichen Häfen wie New York. Also schickten sie ihre Waren den Mississippi runter, nach New Orleans. Allerdings war die Stadt damals nicht unter US-amerikanischer, sondern unter spanischer Kontrolle. Diese Leute standen also vor der Wahl, sich zum Osten zu bekennen, eine eigene Nation mit Treueschwur an Spanien zu gründen oder gleich ganz Teil von Spanien zu werden.
Wenn man in die Gegenwart schwenkt, auf die heutigen Konflikte und Diskurse in den USA, dann hat es den Anschein, als fände sich das Land erneut in einer Art Revolution wieder. Man könnte vielleicht sogar von einem diskursiven Kriegszustand sprechen.
Politik in den USA ist wie Bürgerkrieg mit anderen Mitteln. Manche Menschen sind bereit, auf noch schärfere Mittel als den Diskurs zurückzugreifen. Das ist beängstigend in einem Land, in dem es fast mehr Waffen als Einwohner*innen gibt. Linke und Rechte sprechen relativ locker über die Spaltung der USA. Nach den Wahlen 2016 meinten Bekannte von mir, dass sie gern ein eigenes Land gründen oder nach Kanada ziehen würden. Hinter den Rechten versammeln sich Verschwörungstheoretiker*innen, die schon den nächsten Bürgerkrieg kommen sehen. Solche Abspaltungsgedanken gibt es in den USA schon immer. Allerdings wirkt das politische System immer unfähiger, unsere inneren Streitereien abzufedern.
geboren 1990 in Queens, New York City, ist Autor bei The Nation und schreibt unter anderem für die New York Times, die Washington Post und die New York Review of Books
In seiner Wahlkampagne setzt Donald Trump auf Angst. Die Black-Lives-Matter-Proteste bezeichnet er als Terrorismus, China bedroht das wirtschaftliche Überleben der USA. Brauchen die Vereinigten Staaten die äußere und innere Bedrohung, um zusammenzuhalten?
Absolut. Es fing mit den Überfällen indigener Bewohner*innen auf die frühen Siedlungen an. Die Siedler*innen waren so verängstigt, dass sie sich zusammentaten, obwohl sie das nicht vorhatten. Das zieht sich bis heute durch. Die Angst hält das Land zusammen. Viel mehr als die Sprache, die Religion, Kultur oder die Geografie. Ständig wird irgendein Krieg ausgefochten, intern oder extern, kalt oder heiß, real oder metaphorisch, dauernd muss irgendein Feind bekämpft werden.
Ein konservativer Kommentator nannte die Sezession eine dumme Fantasie der Linken. Ihr Buch sei demnach nur ein Beweis für den linken Hass auf die Vereinigten Staaten.
Sobald sich Politiker*innen oder Intellektuelle, von welcher Seite auch immer, äußern, kommt gleich der Vorschlaghammer. All das sei festgefahren, links oder rechts. Ich bin nur ein Typ, der in seinem Kämmerlein ein Buch geschrieben hat. 2016, als ich die Idee zu dem Buch hatte, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass wir heute eine Art Live-Action-Epilog dazu erleben würden.
Was wäre denn trotzdem ein triftiger Grund, die Union der Vereinigten Staaten aufzulösen?
„Break It Up: Secession, Division, and the Secret History of America’s Imperfect Union“. Little, Brown and Company, Boston 2020, 496 Seiten, 27 Euro
Wir könnten so die Demokratie bewahren. Von den frühen Tagen der Verfassung bis heute sind sich viele Menschen einig, dass ein so großes Land nicht demokratisch regiert werden kann. 2016 gewannen die Demokraten die Präsidentschaftswahl mit drei Millionen Stimmen Vorsprung und trotzdem wurde Trump Präsident. Letztendlich bestimmt das Wahlmännerkollegium den*die Präsident*in. Wenn es dieses Jahr wieder so läuft wie 2016, könnte zum Beispiel ein Ultimatum zur Abschaffung dieses Kollegiums auf den Plan treten. Außerdem hat jeder Bundesstaat die gleiche Anzahl an Stimmen im Senat, obwohl zum Beispiel Kalifornien ungefähr 70 Mal so viele Einwohner*innen hat wie kleine Staaten wie Wyoming oder Rhode Island. Wo ist da die Balance? Ein weiteres Argument für eine Spaltung ist der Klimawandel. Wir haben zehn Jahre verloren, weil die USA völlig dysfunktional agieren. Anstatt nochmal zehn Jahre zu verlieren, wäre es besser, wenn die Staaten im liberalen Nordosten oder Kalifornien vorangehen.
Welche Wirkung hätte das denn auf die Bundespolitik?
In Kalifornien gelten strengere Regeln für Abgasemissionen von Autos. Aufgrund seiner Größe hat Kalifornien viel Gewicht bei der Bundesgesetzgebung. Wenn Kalifornien dieses Gewicht einsetzt, müssen sich andere Staaten diesen Regeln anpassen. Trump hat Kalifornien wegen seiner strengen Regeln verklagt, der Prozess steht noch aus. Wenn die Bundesregierung weiter progressive Vorstöße in den Bundesstaaten unterdrückt, werden sich mehr und mehr Menschen noch einmal überlegen, ob eine Loslösung von der Union nicht sinnvoller wäre. Aber wie gesagt, ich finde diese Vorstellung ganz und gar nicht gut.
Dennoch haben die Bundesstaaten Mittel an der Hand, um Widerstand zu signalisieren. Wie sehen die konkret aus?
Kalifornien könnte sich zum Beispiel langsam vortasten, ohne gleich komplett aus der Union auszutreten. Ein tragisches, aber interessantes Beispiel sind die großen Waldbrände dort. In solchen Fällen sind die Bundesstaaten sehr auf Hilfe von der Bundesregierung angewiesen und darin liegt ein wichtiger Beweggrund, nicht aus dem Staatenverbund auszutreten. Wie die New York Times kürzlich allerdings berichtete, wollte Trump diese offizielle Nothilfe für Kalifornien streichen, weil es nicht seine politische Basis ist. Wenn ein*e künftige*r republikanische*r Präsident*in ähnlich vorgeht, könnten Staaten wie Kalifornien zum Beispiel Steuereinnahmen zurückhalten, die an die Bundeskassen fließen. Demokratisch geführte Staaten zahlen mehr in diese Kassen ein als republikanisch geführte. Die nehmen mehr, als sie geben.
In ihrem Buch „Break It Up“ lesen Sie die Vorstellungen der USA gegen den Strich. Was wollen Sie im derzeitigen politischen Klima bei den Menschen auslösen?
Wir sprechen zu viel über Begriffe wie Nation oder Amerika. Letztendlich sind die Vereinigten Staaten eine Union einzelner Bundesstaaten, die schon seit langer Zeit schwächelt. Jeder Präsident spricht in der traditionellen Ansprache zur Lage der Union natürlich trotzdem davon, wie stark sie ist. Stattdessen steuern wir auf einen Bruch zu, auf eine Wahl, die möglicherweise angefochten werden wird, auf neue Gewalt auf den Straßen. Wir müssen also ganz bewusst und klar darüber diskutieren, ob die Union zusammenhalten soll oder nicht. Ansonsten schlafwandeln wir doch bloß in eine Katastrophe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren