Austauschschüler in den USA getötet: Vier Schüsse ohne Vorwarnung
Ein Hausbesitzer hat in Montana einen Austauschschüler aus Deutschland erschossen. Die Behörden ermitteln wegen vorsätzlicher Tötung.
MISSOULA taz | Gerade war Missoula noch die Stadt, in der man seine Haustür nicht abschließen musste. Gewaltverbrechen waren so selten wie in Bullerbü. Seit drei Tagen scheint es nun aber, als lauere hinter jedem Garagentor der Tod.
Die tödlichen Schüsse eines Hausbesitzers auf einen Austauschschüler aus Hamburg haben das Selbstverständnis der auf Offenheit bedachten Bevölkerung in dem Uni-Städtchen in den Rocky Mountains erschüttert. „Das war ganz sicher nicht die Norm, das war ein schrecklicher Unfall“, sagt Jay Bostrom, der Spanischlehrer und Fussballtrainer des 17-jährigen Diren D.
Das Prinzip der bewaffneten Vorwärtsverteidigung passt zum Klischee des Wilden Westens. Es ist jedoch, wie der Fall Trayvon Martin in Florida zeigte, keineswegs auf ihn beschränkt. Mehr als die Hälfte der US-Bundesstaaten haben Paragrafen, die den Selbstschutzbegriff weit auslegen. Gewaltanwendung wird so legitimiert.
In Montana wurden die Bürger bis 2009 dazu angehalten, bei Einbrüchen erst einmal um Hilfe zu schreien, das Weite zu suchen oder die Polizei rufen. Doch dann setzte die Waffenlobby eine Gesetzesänderung durch, laut der Eigentümer nun einen Eindringling gleich totschießen dürfen, sofern sie „vernünftigerweise“ annehmen können, dass der ihnen an den Kragen will.
Erschossen: Der 17-jährige afroamerikanische Schüler Trayvon Martin wurde am Abend des 26. Februar 2012 in Sanford, Florida, von einem Nachbarschaftswachmann erschossen – angeblich aus Notwehr. „Dieser Kerl sieht so aus, als ob er nichts Gutes im Schilde führt. Der ist auf Drogen oder so“, berichtete der Schütze der Polizei – bevor er den Jugendlichen verfolgte. Martin indes kam vom Kiosk zurück, wo er Kaubonbons und Eistee gekauft hatte. Wenig später erschoss der Wachmann den unbewaffneten Schüler.
Freigesprochen: Der Schütze wurde des Mordes mit bedingtem Vorsatz angeklagt, jedoch am 13. Juli 2013 von den Geschworenen für unschuldig befunden und freigesprochen. Es war der Staatsanwaltschaft nicht gelungen, „alle begründeten Zweifel“ auszuräumen, dass der Angeklagte aus Notwehr gehandelt hatte.
Staatsanwälte gewinnen gern
Die Neufassung der Castle-Doktrin („mein Haus ist meine Burg“) wurde gegen den erklärten Willen der Staatsanwaltschaften des Bundesstaates durchgesetzt. Denn die Ankläger müssen nun in jedem Einzelfall nachweisen, dass ein Schütze, der auf Selbstverteidigung plädiert, keinen plausiblen Grund hatte, sich bedroht zu fühlen. Staatsanwälte gewinnen gern, weshalb sie häufig in Castle-Fällen auf die Anklageerhebung verzichten – wie 2012, als ein Garagenbesitzer in Kalispell, nördlich von Missoula, den Ehemann seiner mutmaßlichen Geliebten erschoss.
Bei den Ermittlungen zum Tod des Hamburgers Diren D. meinen die Staatsanwälte aber bessere Karten in der Hand zu haben. Denn die Schüsse auf den 17-Jährigen hatten eine Vorgeschichte, die an der Selbstverteidigungsthese zweifeln lässt.
Markus K. ist Feuerwehrmann im staatlichen Forstdienst und damit in Montana erst einmal ein Held. Laut seinem Anwalt hatten er und seine Lebensgefährtin innerhalb der vergangenen drei Wochen zweimal Einbrecher im Haus. Daraufhin hätten sie Bewegungsmelder installiert und ein Babyfon zum Überwachungsgerät umfunktioniert.
Janelle P. präparierte eine Handtasche und legte sie in die Garage. Das Tor ließ sie offen. Das Paar setzte sich vor den Fernseher. Der Köder war bereit. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft hatte Markus K. bereits Mitte vergangener Woche bei einem Friseurbesuch erklärt, er liege seit Tagen mit der Flinte auf der Lauer, um eins der „verfickten Kids“ zu erwischen.
Mental auf Rache eingestellt
Es sei dem 29-Jährigen nicht darum gegangen, seine Familie oder sein Eigentum zu schützen, sagte der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Andrew Paul. „Mental war er auf Rache eingestellt.“ Als der Alarm anschlug, macht Janelle P. mit ihrem Smartphone ein paar Screenshots von dem Menschenwesen, das in ihrer Garage herumtapste.
Markus K. nahm sein Gewehr und feuerte, offenbar ohne Vorwarnung, vier Schüsse in die dunkle Garage ab. Einer traf Diren D. tödlich am Kopf. Warum der Junge in die Garage ging, war am Montag noch Gegenstand von Ermittlungen. Die Polizei vernahm einen Freund, der mutmaßlich in der Nacht zum Sonntag mit ihm unterwegs war. „Laut seinem Freund war er auf der Suche nach etwas zu trinken“, sagte Paul. „Und dann sah er die offene Garage, und seine Gastfamilie hatte immer Gatorade in der Garage.“
Als Janelle P. versuchte, dem tödlich getroffenen Jungen erste Hilfe zu leisten, erkannte sie ihn nach Angaben des Verteidigers nicht. Dabei wohnte Diren D. bei einer Gastfamilie im selben Viertel – einer Neubausiedlung mit großzügigen Grundstücken, gepflegten Holzhäusern und geräumigen Garagen. Am Ende der Straße beginnen die Berge.
Ziemlich das Gegenteil von St. Pauli, wo Diren herkam. Die Big Sky High School ist die Schule für Jugendliche aus dem Umland von Missoula. Sie ist auf Landwirtschaft, Sport und kreatives Schreiben spezialisiert. Diren war beliebt, hartnäckig auf dem Fußballfeld, und erzählte häufig von der Türkei. „Er war kein typischer Austauschschüler“, sagt Bostrom, sein Mentor. „Aber er war einer der interessantesten, einnehmendsten jungen Austauschschüler, die ich je unterrichtet habe.“
Wann immer Missoula ein Unglück ereilt, spielt sich die öffentliche Debatte in den elektronischen Kommentarspalten des Missoulian und des Lokalfernsehens ab. Am ersten Tag dominierten dort rabiate Stimmen, die den Schützen beglückwünschten. Am Montag hörte sich das schon anders an. Viele Leserbriefschreiber leisteten Abbitte, nach dem Motto, wir sind nicht alle so! Eine Abgeordnete, die Missoula im Landesparlament vertritt, brachte einen Gesetzesentwurf zur Rücknahme der Castle-Doktrin ein.
Bostrum rang damit, den nun verbliebenen zwei Austauschschülern (eine Berlinerin, ein Ecuadorianer) die Waffenkultur der USA zu erklären, oder die Castle-Doktrin. Man dürfe sich nicht abschrecken lassen von einer extremen Minderheit, sagt der Lehrer, der als progressiv bekannt ist. „Ich fände es furchtbar, wenn wir unsere Welt schrumpfen ließen und aufhörten, außerordentliche Leben zu führen und aus unseren Türen zu treten, nur weil Tragödien wie diese möglich sind.“
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