Ausstellung von Marc Camille Chaimowicz: Sehr real, doch künstlich entrückt
Im Brüsseler Ausstellungshaus WIELS darf die Kunst in einem schön nostalgischen Rundgang von Marc Camille Chaimowicz einfach nur Kunst sein.
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Ausstellungen, die das Künstliche, Kultivierte, die Andersartigkeit von Kunst gegenüber dem Alltäglichen hervorheben, sind derzeit nicht gerade in Mode. Auf den aktuellen Biennalen oder im Berliner Ausstellungsbetrieb favorisiert man lieber eine Kunst, die ihre Rolle im aktivistischen Gebrauchswert sieht, eine „Systemrelevanz“ sicherstellt.
Doch selbst die bestgemeinte Kunst kann nicht die Welt retten. Wie denn? Und auch die aktivistischste künstlerische Praxis bleibt auf Formen der Veranschaulichung angewiesen. Auch sie muss aushandeln und symbolisieren, um einen Daseinsgrund und vielleicht ein bisschen Aufmerksamkeit zu generieren.
In Brüssel, im Kunsthaus WIELS, hat Marc Camille Chaimowicz mit „Nuit américaine“ nun eine Ausstellung eingerichtet, die in Sachen künstlerischer Künstlichkeit geradezu provokant daran erinnert, wie schön anders eine Kunst sein kann, wenn sie auf sich selbst hält, ohne „große“ Kunst sein zu müssen.
Über drei Räume und mit vergleichsweise einfachen Mitteln entfaltet Chaimowicz, 1947 im Paris der Nachkriegszeit geboren und später nach London übergesiedelt, einen hochsubjektiven Rundgang. Dieser lässt sich auch als Lehrstück verstehen, wozu Kunst einerseits in der Lage ist und was sie andererseits nicht können muss.
Marc Camille Chaimowicz: „Nuit américaine“, WIELS, Brüssel. Bis 13. August
Als choreografiertes Ambiente eröffnet die Installation „Celebration? Realife“. Sie ist das aus allerhand trivial-mysteriösen Fund- und Flohmarktstücken, Büchern, Bildern und Zeitungsausrissen, Lämpchen und Bühnenscheinwerfern, langsam verblühenden Blumensträußen, Konfetti und Diskokugeln lose zusammengestellte, von Duft, Licht, Musik und Erinnerungen durchzogene Entrée zur Brüsseler Schau.
Musterbeispiel queerer Ästhetik
1972, auf dem Höhepunkt der betont rationalen Conceptual Art, wurde das Ensemble erstmals im Glam-Rock-begeisterten London präsentiert. Mittlerweile ist es ein Musterbeispiel queerer Ästhetik, Chaimowicz brachte es dann 2000 zu seiner aktuell aufgeführten Form. Die silbern gestrichenen Wände erinnern an Warhols berühmte Factory, aber auch daran, dass ein bisschen Chic im Partykeller selbst unter widrigen Umständen leicht zu haben ist. Nostalgie ist hier eh schwer zu vermeiden.
Halb Bühne, halb offen gelegte Lebens- und Arbeitssituation ist „The Hayes Court Sitting Room“ (1979–2023) eine Art Reliquie. In diesem Raum mit handgemachten Tapeten, dem sorgsam ausgewählten, teils selbst entworfenen Mobiliar, den Büchern und Bildern, dem Tisch mit Alkoholika hat der Künstler jahrzehntelang gelebt.
Jetzt ist dieses Environment in vier Teile zerschnitten, die Wände wie ein Filmset aufgefächert, die abgenutzten Requisiten dabei fast aufdringlich real exponiert und dennoch künstlich entrückt. Wie bei echten Reliquien auch bleibt Nicht-Eingeweihten unklar, wo ihr Nutzen, wo ihr Wert liegt – was ihre Aura nicht schmälern muss.
Zuletzt zeigt Chaimowicz eine Art Briefroman, eine während der Pandemie am Küchentisch entstandene Collage. Adressiert an die Kuratorin der Brüsseler Schau, Zoë Gray, identifiziert sich Chaimowicz in „Dear Zoë“ (2020–2023) mit Gustave Flauberts Romanfigur Emma, die berühmte Madame Bovary. Flaubert ließ seine Heldin in Bücher flüchten und die angelesene, fiktive Welt bis zur bitteren Tragödie nachleben.
Und da genau verläuft jene Grenze, die zwischen der Wirklichkeit der Kunst und all den anderen Realitäten vermittelt. Dank der Kunst aber lässt sich auch ein Gespür dafür entwickeln, auf welcher Seite man selber gerade ist.
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