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Ausstellung über Engel der GeschichteDen Blick auf die Vergangenheit gerichtet

Ein seltener Gast: Eine Kabinettausstellung im Bode-Museum zeigt Paul Klees kleines Gemälde „Angelus novus“, das Walter Benjamin ins Exil begleitete.

Noch ein Engel ist in der Ausstellung zu sehen: Bruno Ganz als Damiel in „Himmel über Berlin“ Foto: Road Movies/Argos Films

Berlin taz | Als Reproduktion grüßt er derzeit hundertfach von Berliner Litfaßsäulen: der „Angelus novus“, der „Neue Engel“ – eine Figur, die der deutsche Maler Paul Klee 1920 als aquarellierte Zeichnung aus Tusche und Ölkreide auf bräunlichem Papier erschuf. Der Grund der Allgegenwärtigkeit: Das mit seinen 31,8 x 24,2 cm recht kleine Original des Bildes ist derzeit im Berliner Bode-Museum zu besichtigen – und das wiederum ist keine Kleinigkeit. Normalerweise befindet sich das Werk im Israel Museum in Jerusalem und wird nur selten verliehen, und wenn, dann teilweise selbst nur als fotografische Reproduktion.

Den Staatlichen Museen zu Berlin ist es aber nun, wie bereits 2008, gelungen, Klees Bild für wenige Wochen nach Berlin zu holen. Eröffnet am 8. Mai, zeigt die Kabinettausstellung „Der Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel 80 Jahre nach Kriegsende“, mit dem „Angelus novus“ in ihrem Zentrum eine künstlerische Arbeit, die den Staatlichen Museen als „ein Hauptwerk der Kunst des 20. Jahrhunderts“ gilt. Sein großes Antlitz den Betrachtenden zugewandt, die Arme (die erst der Titel zu Flügeln macht) ausgebreitet und erhoben, hat die stilisierte Engelsfigur mit dem offenen Mund einen irritierend unruhigen Blick.

Die kunsthistorische Relevanz des Bildes, das sonst nur eines von vielen Werken Klees wäre (wie es auch nur eines von vielen seiner Bilder mit Engelsmotiven ist), erschließt sich aus seiner geistes- und kulturgeschichtlichen Bedeutung: Der „Angelus novus“ wurde 1921 von dem deutsch-jüdischen Philosophen Walter Benjamin erworben. Zuerst in seinen Berliner Wohnungen, dann in seinem Pariser Exil hängend, begleitete ihn der Engel ein Motiv, das sich auch in seinen Notizen und Schriften wiederfindet.

1940, im selben Jahr, in dem er vor den Nazis fliehend im spanischen Portbou den Freitod wählte, schrieb Benjamin seine geschichtsphilosophischen Thesen, „Über den Begriff der Geschichte“. Unter dem Eindruck von Faschismus und Stalinismus interpretierte er in These IX auch Klees „Angelus novus“: „Der Engel der Geschichte muss so aussehen.“ Er richte seinen Blick auf die Vergangenheit, die sich ihm als eine einzige Katastrophe darstelle. Obwohl er die Zerstörungen beheben möchte, würde er von einem Sturm unaufhaltsam in die Zukunft getragen. „Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“, endet Benjamin seine These. Klees Bild wurde vermutlich um 1941 Gretel und Theodor W. Adorno in New York anvertraut und hing später in deren Frankfurter Wohnung, bis es Siegfried Unseld 1972 an Gershom Scholem überreichte, in dessen Besitz es – wie von Benjamin verfügt – so überging.

Der melancholische Engel Klees wurde zum Markenzeichen für die Erinnerung an sich

Nicht zuletzt auch aufgrund dieser Provenienz wurde der „Angelus novus“, in Verbindung mit Benjamins Text, „zu einer Art Markenzeichen für Benjamin, die Frankfurter Schule, die moderne jüdische Ideengeschichte, die kritische Geschichtsschreibung und für das Erinnern an sich“, wie die Kunsthistorikerin Annie Bourneuf in ihrem 2024 auf Deutsch erschienenen Buch „Im Rücken des Engels der Geschichte“ urteilte.

Vor allem Letzteres dürfte Kurator Neville Rowley von der Gemäldegalerie dazu bewogen haben, Klees Bild zu Erinnerung an das Kriegsende in Europa 1945 nicht nur eine eigene Ausstellung in einem Saal des Bode-Museums zu widmen, sondern in diesem auch eine kleine Auswahl an Dokumenten und künstlerischen Arbeiten anderer zu zeigen, die mit dem „Angelus novus“ verbunden sind und sich nun um das Bild herum gruppieren. Da sind etwa die aus der Akademie der Künste ausgeliehenen Originalmanuskripte von Benjamins Thesen. Oder, rückseitig des Engels, jener Ausschnitt aus Wim Wenders Spielfilm „Der Himmel über Berlin“ (1987), in dem für Menschen unsichtbare Engel den Gedanken von Lesenden in der Staatsbibliothek (West) lauschen – darunter einer Passage aus Benjamins Text. Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I“ (1514) wird gezeigt, auf dem ein Engel seinen Kopf in die Hand stützt, sein Blick geht ins Leere. Gegenüber Gisèle Freunds bekanntes Farbfotoporträt (1938) von Benjamin, auf dem er mit ähnlich melancholischer Geste abgebildet ist.

Der Engel der Geschichte“: Bode-Museum, bis 13. Juli

Stellvertretend für viele im Krieg beschädigte Werke des heutigen Bode-Museums steht der Giambattista Bregno zugeschriebene kniende Engel (um 1510), dem nun beide Unterarme fehlen. Noch mehr gäbe es zu erwähnen, das nicht im Fokus der Ausstellung steht, aber einen weiteren Blick auf Klees Bild lohnt: Annie Bourneuf erzählt im erwähnten sehr lesenswerten Buch (Merve Verlag, 22 Euro) von der kürzlichen (2015) Entdeckung eines bisher unbeachteten Bildes eines anderen Künstlers, auf dem der „Angelus novus“ montiert ist. Denn Klee klebte sein Blatt auf einen ein Gemälde von Lucas Cranach kopierenden Kupferstich von 1838, auf dem Martin Luther abgebildet ist – eine Entdeckung mit Implikationen auch für die geschichtsphilosophische Auslegung von Benjamins Text. Wer sich die Ausstellung im Bode-Museum ansieht, sollte Bourneufs Buch nicht missen; beides wird den Blick auf den „Engel der Geschichte“ bereichern.

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1 Kommentar

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  • Es gibt einen melancholischen Song von Laurie Anderson über den Engel der Geschichte. Hänsel und Gretel sitzen in einer Bar in Berlin, trinken Schnaps und Gin:

    The Dream Before (for Walter Benjamin)

    She said: What is history?



    And he said: history is an angel



    Being blown backwards into the future



    And the angel is trying to fix things



    That have been broken



    But there is a storm blowing from paradise



    And the storm keeps blowing the angel



    Backwards into the future.



    And this storm, this storm



    Is called



    Progress."

    auf der CD Strange Angels, 1987