Ausstellung in Hamburg: Der große Bilddiskurs

Ordnungs- und Wahnsysteme auf fünf Stockwerken: Die Ausstellung "Atlas" arbeitet sich an 200 Jahren Kulturgeschichte ab - und an grundsätzlichen Fragen.

Welt, als Lehrtafel zusammengestellt: eine von Barbara Blooms "Nabokov Butterfly Boxes" (1998-2008, Ausschnitt). Bild: Galería Raffaella Cortese / Deichtorhallen

HAMBURG taz | Sechs Minuten dauert es, die "Encyclopaedia Britannica" durchzusehen: In rasender Geschwindigkeit zeigt eine Projektion alle Seiten des umfangreichsten Lexikons der Welt. Lesen lassen die sich nicht mehr, aber die Bilder, oder zumindest ihr Rhythmus, prägen sich ein. So wird John Lathams Film zum Schlüssel für eine Ausstellung in der Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg, die über fünf Stockwerke einen großen Bilddiskurs über die Kultur der vergangenen 200 Jahre an die Wände bringt.

Von Goya bis Polke, von Rimbaud bis Brecht sich mehr als 115 Künstler und künstlerisch notierende Literaten vertreten in der zuvor bereits in Madrid und Karlsruhe gezeigten Ausstellung "Atlas". Und weil viele ihrer Arbeiten schon für sich umfangreiche Ansammlungen von Bildern sind, braucht es also viel Zeit - und einiges Vorwissen - für die besichtigende Bildlektüre. Anknüpfungspunkt sind die zwischen 1925 und 1929 erstellten Atlas-Tafeln des Hamburger Kulturwissenschaftlers Aby Warburg. Die damit eingeführte Methode aber ist ganz allgemein: Das Setzen eines individuellen Ordnungssystems für die eigenen Bildanregungen, das aber Gültigkeit über den Einzelnen hinaus beanspruchen kann. Im Ordnen des Eigenen beispielhaft die Welt ordnen - als Wissenschaftler, Literat oder Künstler.

Seinen eigenen, Kunsthistoriker und Künstler faszinierenden Atlas hat Aby Warburg (1866-1929) nie fertiggestellt. Die oft umsortierte Materialiensammlung von über 1.500 Fotos, Briefmarken, Zeitungsausschnitten oder Werbeetiketten nannte er "Mnemosyne", nach der altgriechischen Göttin der Erinnerung: Sie ist die Mutter der Musen und stammte, so wie ihr die Zeit selbst bestimmender Bruder Kronos, aus dem Göttergeschlecht der Titanen.

Den Titanensohn Atlas bestimmte Zeus dazu, am Rande der bekannten Welt das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern zu tragen. Was ihn zum Schutzherrn der Astronomen und der Geografen machte. Weil auch ein Buch mit vielen Tafeln das Bild der Welt trägt, heißen solche umfassenden Sammlungen heute: Atlas.

Demgegenüber schultern Künstler gerne eigene, ungewöhnliche Klassifizierungssysteme - und hoffen anhand unverhoffter bildlicher Wahlverwandtschaften auf einen neuen Wissenstypus, der bislang unbemerkte Perspektiven erschließt.

Wie später Bertolt Brecht sammelte Aby Warburg ab 1914 Mengen von Kriegsfotografien, doch fassen und bannen konnte er das Grauen damit nicht. Ihn führte der Zusammenbruch der alten Ordnung durch den Krieg zu einer tiefen wahnhaften Krise, weshalb er sich bis 1924 in einem Schweizer Sanatorium aufhielt.

Solange aber nicht jegliche Orientierung zerbricht, sondern nur ein tradiertes System, ist dieser Verlust offenbar sogar kreativ: Aus ihrem alten Zusammenhang gelöst, öffnet sich in der Montage der Zeichen ein Horizont für neue Zusammenhänge. Genau das macht die im Atlas zur Form gekommene Suche des wiedergenesenen Kulturwissenschaftlers Warburg dann so vorbildhaft und anregend.

Schon das kindliche Spiel oder auch die Zufallskombinationen auf einem Flohmarkt sind interessante neue Ordnungssysteme. Ein beliebtes Arbeitsmittel für konzeptuelle Künstler aber sind Serien und die damit mitunter ganz willkürlich erreichbare Vergleichbarkeit. In lehrtafelähnlichen Zusammenstellungen, seltsamen Bildalfabeten oder irrational motivierten Kombinationen sortieren sie die Erscheinungen der Welt um.

Viele Künstler führen Wandertagebücher, erfinden subjektive Geografien. Stanley Brouwn etwa referiert auf Atlanten als Karten und baute ein imaginäres Wegesystem auf, indem er sich immer wieder von hilfsbereiten Personen auf vorgedruckten Formularen aufzeichnen ließ, wie er ein spezielles Ziel erreichen könne. Eine ganze Künstlergeneration prägte das systematisch-ziellose Flanieren der Situationisten, von deren Gründer Guy Debord nun in Hamburg einiges zu sehen ist.

Mit speziellen Ansammlungen von Bildern und der Begründung ihrer Auswahl werden auch Strukturen sichtbar, mal eher private, mal ganz politische. Walid Raad von der fiktiven libanesischen "Atlas Group" liebt es, mit Erfassungssystemen zu spielen, die indirekt das Grauen des Bürgerkriegs spiegeln. Aus dem New Yorker Guggenheim-Museum geworfen wurde wiederum 1971 Hans Haacke mit seiner Arbeit "Shapolsky et. al. Manhattan Real Estate Holdings, a Real-Time Social System" - einer Analyse der Spekulation um 146 Häuser.

Weit über solche Arbeiten hinaus ist die Ausstellung ein grundsätzlicher Diskurs zur konzeptuellen Kunst - nicht nur weil der Kurator ein Philosoph ist: Georges Didi Huberman hatte zur Vorbereitung 15.000 Scans in seinem Computer. Selbst bei der endgültigen, für Hamburg nochmal veränderten Auswahl ist einiges Gezeigte nur als fußnotenartiger Verweis zu verstehen.

So verlangen Bücher mit Bildtexten von Schriftstellern und Bilddenkern eigentlich eine andere Nutzung, als in Vitrinen zu liegen. Immerhin wird so auch an diese Paradoxie erinnert: Des blinden Weltendenkers Jorges Luis Borges letztes Buch war - ein Bilderbuch.

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