Ausstellung im Kunstraum Kreuzberg: Alte Heimat und neues Heim
In „Beyond Home“ erforscht eine Gruppe migrantischer Künstlerinnen die Konzepte von Heim und Heimat. Dabei suchen sie auch nach neuen Deutungen.
Ziegelsteine liegen auf dem Boden des Kunstraums Kreuzberg verteilt. In sie sind Texte eingeritzt. „Berlin ist jetzt mein Zuhause“ steht dort. Aber auch „I miss my childhood“ und „I don’t like to get old in Germany“. Die Künstlerin und Filmemacherin Özlem Sariyildiz hat diese Sätze aus Interviews mit Neuankömmlingen in Berlin extrahiert.
Wie sie da auf dem Boden liegen, einzelne Steine auf einer ebenen Fläche, muten sie ein wenig wie die Stolpersteine an, mit denen der Künstler Gunter Demnig in Deutschland und sogar über die Landesgrenzen hinaus an von den Nationalsozialisten ermordete oder in den Suizid getriebene Menschen erinnert.
Die Ziegelsteine, die Sariyildiz ausgelegt hat, verweisen auf sehr lebendige Menschen in unserer Gegenwart, auf Menschen, die aus ihren Heimatländern vertrieben wurden oder die die Flucht vor noch größerem Übel vorzogen und jetzt in Berlin eine neue Heimat suchen. Das so gewaltig aufgeladene Wort ‚Heimat‘, das durch die NS-Propaganda derart kontaminiert wurde, dass manchen Deutschen noch heute das Aussprechen schwerfällt, erfährt durch die Neuankömmlinge auf Heimatsuche eine wieder neue Bedeutungsebene.
Was, wenn es kein Heim gibt?
„Beyond Home“, kuratiert von einer Gruppe feministischer migrantischer Künstlerinnen, ist darüber hinaus auch eine Auseinandersetzung mit der patriarchalen Perspektive auf das Heim als den Platz, an dem Frauen zu sein haben. Was aber tun, wenn es kein Heim mehr gibt, und auch die Heimat verloren ist?
„Beyond Home“. Kunstraum Kreuzberg, bis 20. August 2023
Den Zustand des Verlusts, des Nicht-mehr-Daseins, setzt Aleksandra Kononchenko auf ganz besondere Art in Szene: Die Fotografin aus Belarus musste erleben, wie im Grenzgebiet zwischen ihrer Heimat und Polen zahlreiche Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan festsaßen, weder nach Belarus zurückkehren durften, wo sie nur ein Faustpfand im zynischen politischen Spiel des Minsker Diktators Alexander Lukaschenko darstellten, und auch nicht vom EU-Land Polen aufgenommen wurden.
Kononchenko sammelte Objekte und Artefakte, die die Geflüchteten in den Wäldern zurückließen, und ließ Salzkristalle auf ihnen wachsen. Salzkrusten bedecken Tassen und Schalen, Messer und Löffel, ganz so, als handele es sich um archäologische Fundstücke aus sehr fernen Epochen. Das Salz aber ist frisch. Es gehört zu jedem Haushalt, in jede Speisekammer – und es ist auch der Feststoff in Tränen, die in Momenten von Angst, Elend und Trauer vergossen werden. Wie viele Tränen müssten geflossen sein, um derart dicke Salzschichten zu bilden?
„Beyond Home“ verharrt allerdings nicht in der Opferhaltung. „Ich bin nicht nur das Opfer“ steht auch auf einem der Ziegelsteine von Sariyildiz, die gemeinsam mit Selda Asal und Sirin Fulya Erensoy auch Kuratorin der Ausstellung ist.
Befreiungsmomente offeriert die Performance-Installation „Der Stoff“ von Havin Al-Sindy. Eine Gruppe kurdischer Frauen hat ihre Kleider mit einer Schicht aus weißem Gips bedeckt. Die Frauen beginnen darunter zu tanzen. Nach und nach platzt der Gips ab. Die Kleider werden sichtbar, die Frauen schälen sich aus dem Weiß heraus, werden individuell.
Sichtbar werden und bleiben
Ein Mittel des Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens ist auch die Initiative Wawa (Women Artists Web Archive), das in Form eines Video-Archivs Künstlerinnen und ihre Arbeiten vorstellt und einzelne Interviews auch in der Ausstellung zeigt.
Als sehr praktisches Wissensweitergabe-Projekt fungiert Marina Napruskinas „Closed to the public“. Die aus Minsk stammende Künstlerin dokumentiert darin Asylverfahren am Landgericht Moabit und liefert damit neuen Jahrgängen von Geflüchteten Einblicke in die teils sehr verletzend wirkenden Fragepraktiken der Richter*innen.
„Beyond Home“ bearbeitet ein großes Themengebiet aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Ausstellung wird von einem Veranstaltungsprogramm begleitet.
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