Ausstellung „Daily Bread“ in Hannover: Weißbrot ist nicht Weißbrot
Die Mittel der ukrainischen Künstlerin Zhanna Kadyrova wurden seit 2014 härter und aggressiver. In Hannover zeigt sie eine umfassende Retrospektive.
Wie bequem haben wir es uns lange in Deutschland gemacht, in unserer Komfortzone mit billigem russischen Gas, die osteuropäischen Belange nicht hören und nicht sehen wollend. Am 24. Februar 2022 sind dann viele von uns wohl aufgewacht:
acht Jahre nach der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn im Donbass, gar 30 Jahre nach den ersten blutigen Konflikten in Moldau, Tschetschenien, Georgien. Immer ist es Moskau, das die Selbstständigkeit der neuen, postsowjetischen Staaten nicht anerkennen, sie in eine „Russische Welt“ heimholen will.
Schnell kommt man mit Zhanna Kadyrova darauf zu sprechen. Sie, eine der wichtigsten zeitgenössichen Künstler:innen aus der Ukraine, hat für die von Russland geschürten Konflikte schon lange ihr bildnerisches Instrumentarium geschärft. Genauso wie ihr Bewusstsein für die aktuelle Lage.
„Der Krieg in der Ukraine kommt in eine neue Phase“, sagt sie kurz vor Eröffnung ihrer umfassenden Retrospektive im Kunstverein Hannover. „Es wird augenblicklich schwieriger, die professionelle Überlegenheit der ukrainischen Armee gegenüber den unerschöpflichen Ressourcen Russlands aufrechtzuerhalten. Wir benötigen wirkliche Sanktionen gegen Russland – und Waffen.“ Besonders schmerzt sie, dass viele Künstlerkolleg:innen in den Krieg gezogen sind, ihre Werkstätten mit dem Schützengraben tauschen: „Diese Vorstellung ist schrecklich.“
Arbeit mit vorgefundenem Material
Zhanna Kadyrova, 1981 in Brovary geboren – auch so ein Ort, der kürzlich durch den tödlichen Absturz eines Hubschraubers des Innenministers traurige Erwähnung fand –, ist klassische Bildhauerin, arbeitet vorrangig mit vorgefundenen, einfachen Materialien, die sie thematisch ausgewählten Orten „extrahiert“, aber auch mit Zeichnungen, Videos, der Fotografie oder kunsthandwerklichen Medien wie der Stickerei.
Zhanna Kadyrova: „Daily Bread“. Kunstverein Hannover, bis 9. April 2023. Umfangreiches Begleitprogramm:
Nach einer kurzen Fluchtetappe in die Karpaten und das westliche Ausland ist sie wieder in die Nähe Kyjiws zurückgekehrt. Dort scheint sie unermüdlich, schier rastlos zu arbeiten, denn mit ihren vornehmlich neuen Werken füllt sie alle sieben Räume des Kunstvereins Hannover in einer sehr intensiven, zwischen bildhafter Erzählung, Assoziation und metaphorischen Chiffren oszillierenden Dichte. Dieses Schaffen ist ihr „tägliches Brot“, wie der Ausstellungstitel mehrdeutig ihr Existenzgefühl umreißt.
In Sachen Kunst sei Kadyrova zudem Extrempendlerin geworden, merkt der Leiter des Kunstvereins, Christoph Platz-Gallus an, der Kadyrova bereits im letzten Jahr beim „Steirischen Herbst“ in Graz gezeigt hatte. Denn nicht nur die Entfernungen zu weltweiten Ausstellungsorten seien, kriegsbedingt, schwierig zu überwinden, auch die konstante physische und psychische Bedrohung in einem Land im Krieg sei selbst an sicheren Stätten wie Graz, der Biennale in Venedig oder derzeit Hannover immer präsent.
In dem knapp vierminütigen Video „Russian Rocket“ hat Kadyrova im Sommer 2022 dafür ein einfaches visuelles Modell gefunden: Wenn sie unterwegs ist, im Zug, im Auto, montiert sie auf die Fensterscheiben den Aufkleber einer russischen Rakete samt martialischem Feuerschweif und filmt sie vor den vorbeirauschenden Situationen. So entfaltet die Rakete ihr Drohpotenzial dann auch in Graz oder im Tiefflug vor dem VW-Hauptsitz in Wolfsburg.
„Secondhand“-Installationen
Natürlich sind in Hannover auch die älteren, bekannten Arbeiten Kadyrovas ausgestellt. Der lebensgroße Marktstand, 2019 auf der Biennale Venedig zu sehen, zeigt zunächst ein farbenfrohes Angebot – Obst, Gemüse, Wurst, Schinken, Brot und Blumensträuße – doch Kadyrova formte es aus gebrochenen Keramik- oder Spiegelflächen und bemaltem Beton.
Oder die „Secondhand“-Installationen mit vermeintlichen Textilien, die sie ab 2015 aus fragmentierter Baukeramik fertigte. Diese stammt etwa aus einem stillgelegten Textilkombinat der Sowjetära in der Ukraine, einst Arbeitsplatz für 6.000 Menschen. Die entstandene „Kollektion“ wiederum ließ sie vor entkleideten, ruinösen Wänden fotografieren. So entstanden Bilderzählungen von einem Ort und seiner Geschichte.
Aber solche Kunst reicht Zhanna Kadyrova schon länger nicht mehr, ihre Mittel wurden härter, aggressiver, auf die Lebenswirklichkeit der Ukraine reagierend. Für ihre flächigen Keramikarbeiten „Shots“ greift sie seit 2014 zur Kalaschnikow, erzeugt so Verletzungen in perfekten quadratischen oder runden Primärgeometrien – sicherlich auch eine Kritik an der unzureichenden Kraft der Kunst, Ausnahmezustände wie einen Krieg zu reflektieren.
Ihre fünfteilige Komposition „Harmless War“, in einer früheren Version noch im Außenraum vor dem Universalmuseum Joanneum Graz zu sehen, ist aus Blechen gefertigt, die im Kriegsgeschehen von Gewehrsalven perforiert wurden. Zhanna Kadyrova bändigte sie ästhetisch zu weiß lackierten, stereometrischen Grundkörpern wie Würfel, Kugel oder Pyramide, ihr unmittelbarer Schrecken ist unter der harmlosen Oberfläche aber nach wie vor präsent.
Ein Hauch Optimismus
Mit aktivistischen Kunstformen lukriert die Künstlerin mittlerweile auch Gelder, zur Unterstützung von Kriegsopfern oder für Ausrüstungen der ukrainischen Armee. Rund 200.000 Euro waren es im letzten Jahr, so Kadyrova. Ihre „Palianytsia“, Brote aus Flusskieseln, aufgeschnitten und delikat dargeboten, können auch in Hannover erworben werden. Der Titel bezeichnet ein landestypisches Weißbrot, die Aussprache und Betonung des Wortes wurden längst zum Test für eine russische oder ukrainische Sozialisation – auch das eine Folge des Krieges.
„In anderen Zeiten würde ich eine andere Ausstellung machen, aber ich habe keine Wahl“, meint Zhanna Kadyrova abschließend. Ein Hauch Optimismus ist dann in ihrer großen Installation „Refugees“ zu spüren, die den Rundgang in Hannover beschließt. Für eine Fotodokumentation durfte sie verbotene Orte besuchen, die von der russischen Armee besetzt waren oder zerstört wurden: eine Bibliothek in Cherson, eine Poliklinik in Charkiw, eine Schule bei Kyjiw.
Dort traf sie auf verlassene Grünpflanzen, die allen widrigen Umständen zum Trotz eine Spur des Lebens bewahren konnten. Der Kunstverein bietet diesen heimatlosen Lebewesen nun Asyl, in der lichten, orangerieartigen Atmosphäre des letzten Raumes treiben sie wieder aus – ein feines, auch ergreifendes Sinnbild für den Überlebenswillen der mutigen Menschen in der Ukraine.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“