Ausgehen und rumstehen von Ruth Lang Fuentes: Böllern allein wird nicht reichen
Ein Knall lässt mich aufschrecken. Klar, es ist wieder Ende des Jahres, und der gute Germane muss die bösen Geister vertreiben. Und dieses Jahr fangen sie besonders früh damit an, denke ich, als ich auf die Uhr schaue. Es wird wohl nichts mehr mit dem Powernap auf der Couch heute. Silvester ist voll im Gange. Wir machen uns auf zu Raclette, Sekt und Gin Tonic bei Freunden. So wie so mancher heute Abend.
Es ist schon dunkel, als wir auf die Straße treten, um noch etwas Sekt beim Späti zu besorgen. Der Planet dreht sich unaufhaltsam weiter, bald wird er wieder eine ganze Umdrehung um die Sonne geschafft haben. Bald. Doch schon jetzt hängt der Rauch der bereits explodierten Raketen in der Luft. Schon jetzt riecht es nach verbrannten Böllern. „Da böllern sie ihr Geld weg wie die Verrückten“, sagst du. „Also dann doch lieber in noch mehr Schaumwein investieren“, lache ich. Vor dem Späti lese ich, dass der Jackpot zum neuen Jahr bei 45 Millionen liegt. Direkt daneben titelt ein Boulevard-Blatt „4.500 Polizisten im Einsatz gegen Böller-Chaoten“. 10.000 pro Bulle, denke ich, und dass das wohl auch zum Beginn des neuen Jahres in Berlin gehört. Ein Bürgermeister, der auf Law and Order setzt und auf eine Polizei mit Elektroschockpistolen und einem verriegelten Görli.
Noch vier Stunden. Wir trinken ordentlich durcheinander, legen Käse auf die Pfännchen, überlegen, Cluedo zu spielen oder Karaoke zu singen oder „Dinner for One“ zu schauen. Und am Ende ist es dann doch viel zu früh kurz vor Mitternacht und ich hole die Trauben. Das ist ein spanischer Brauch: Ganz Spanien isst zum neuen Jahr seine zwölf Trauben, eine zu jedem Glockenschlag. Wer es schafft, braucht sich keine Sorgen mehr zu machen, dass das Jahr schlecht laufen könnte. „Ich habe es geschafft“, grinst du und küsst mich zum ersten Mal in diesem Jahr. Draußen geht's jetzt richtig los. „Also wenn das die bösen Geister nicht endgültig von Berlin fernhält“, sage ich, als wir auf dem Balkon stehen und es über, unter und neben uns kracht und funkelt.
Wir beschließen, tanzen zu gehen, und landen doch im Rauschgold. Glitzerschnipsel bedecken Tische und Boden, generell ist hier alles Glitzer und Lametta und irgendwelche Lieder aus den 2010er Jahren, die auf voller Lautstärke laufen. Über dem Tresen goldene Luftballons: 2024. Der Sekt und was auch immer wir noch so unserem Körper in den letzten Stunden eingeflößt haben, wirkt ordentlich. So lässt sich das neue Jahr doch beginnen. Und doch: Auch wenn die bösen Geister weiter draußen auf der Straße fleißig vertrieben werden, hängt ein mulmiges Gefühl in der Luft. Berlin, 2024, fühlt sich nicht komplett unbeschwert an. Die nach außen so ausgelassene Feier, sie scheint einen üblen Beigeschmack mit sich zu bringen. Einer der Luftballons über dem Tresen platzt; die Ziffer 2 hängt nun schlaff herab. Es ist bestimmt schon fünf Uhr morgens, und niemand in der Runde hat über irgendwelche guten Vorsätze gesprochen. Dafür aber über teure Mieten, die schwindende linke Bewegung, teure Clubpreise, schließende Kneipen, Gentrifizierung.
„Boah, wenn ich daran denke, wo dieses Jahr überall Landtagswahlen stattfinden“, sagt jemand am Tisch. Und wir wissen alle, was er meint, und wissen doch nicht weiter.
„Ein komisches Silvester“, meint der Taxifahrer wenig später. „Ja?“, frage ich und versuche mich dabei möglichst deutlich zu artikulieren. „Ja, kaum Fahrten und das Geböllere war auch schneller vorbei als sonst.“ Schlechtes Zeichen, wir müssen doch unbedingt die bösen Geister unserer Zeit vertreiben, denke ich mir. Und dass böllern alleine wohl nicht ausreichen wird.
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